No. 19 Mein Leben ist wie leise See
Mein Leben ist wie leise See
Mein Leben ist wie leise See:
Wohnt in den Uferhäusern das Weh,
wagt sich nicht aus den Höfen.
Nur manchmal zittert ein Nahn und Fliehn:
Aufgestörte Wünsche ziehn
darüber wie silberne Möwen.
Und dann ist alles wieder still. . .
Und weisst du was mein Leben will,
hast du es schon verstanden?
Wie eine Welle im Morgenmeer
will es, rauschend und muschelschwer,
an deiner Seele landen.
Das Gleichgewicht der Gegensätze
Ein Lächeln, ein Spiegelbild. Die Leichtigkeit lässt dich vergessen, wie fest du am Boden haftest, wie in Kaugummi getreten, losgerissen, mit einem leisen Quietschen unter dem Schuh. Du ignorierst es. Stattdessen kaust du Nüsse und lächelst unbekümmert, während die Menschen um dich herum deinem Beispiel folgen. In diesem Moment bist du ein Leuchtfeuer, vielleicht auch nur ein flackerndes Streichholz, wer weiss, wie lange es brennt, wie gross es noch wird, oder ob es einfach erlischt. Du sprichst einen Namen aus, zögernd, als würdest du mit einem feinen Pinsel auf zartem Papier schreiben. Es ist nicht dein eigener Name. Und plötzlich staunst du über dich selbst.
Die Welt um dich herum bemerkt nicht, welches Wunder du mit dir trägst, wie ein Sperling, so leicht liegt es dir im Herzen und auf der Zunge. Doch in deinem Magen lastet noch immer dieser Klumpen aus Gold, schwer wie ein vergessener Schatz.
Ich wühle im Dreck und schütte eine Handvoll Erde darüber. Sand, kleine Steine und verfaulte Blätter sammeln sich unter meinen Fingernägeln. Es fühlt sich an wie eine Beerdigung, Asche zu Asche. Irgendwann legt sich der Staub von allein darüber.
Wie oft steuern wir verwirrt durch die Welt, weil der Kopf nicht begreifen kann, dass das Herz überschlägt; wie blind wir sind oder, genauer gesagt, wie verschleiert unser Blick wird, wenn alles durch winzige Details und die eigene Angst ins Chaos gerät. Du stehst im Mittelpunkt, verlierst aber deinen Halt und landest irgendwo am Rand, während dein Verstand von der Wucht deiner Emotionen überwältigt wird. Triumphierend stürzen sich deine Gefühle auf die Situation, durchwühlen deine Gedanken wie Plünderer und lassen dir nichts anderes übrig, als stumm zuzusehen. Du bist entwaffnet von einem Meister der Täuschung, zu schwach, um gegen die Macht deiner Furcht anzutreten und die Apokalypse ist ohnehin längst da. Wozu noch kämpfen? Du bist müde, erschöpft und desillusioniert.
Doch nach der Schlacht, wenn du verletzt und sprachlos zurückbleibst, taucht diese verfluchte Hoffnung plötzlich auf. Zu spät wie immer, aber doch rechtzeitig, gerade noch.
No. 18.1 Glück
Glück ist ein leiser Schatten, der sich im Innersten niederlässt, uns berührt und doch ungreifbar bleibt. Es ist kein Geschenk, das man austauschen kann, kein Besitz, den man weiterreicht. Es kommt und geht lautlos, unabhängig von allem Äusseren.
Wer wirklich glücklich ist, trägt es in sich, nicht als Ergebnis, sondern als Zustand, frei von Erklärung oder Teilbarkeit. Zwei Menschen mögen nebeneinander glücklich sein, doch jeder hat es für sich gefunden, allein, in jenem Raum, den keine Worte betreten können.
Ich lieb ein pulsierendes Leben
Ich lieb ein pulsierendes Leben,
das prickelt und schwellet und quillt,
ein ewiges Senken und Heben,
ein Sehnen, das niemals sich stillt.
Ein stetiges Wogen und Wagen
auf schwanker, gefährlicher Bahn,
von den Wellen des Glückes getragen
im leichten, gebrechlichen Kahn ....
Und senkt einst die Göttin die Waage,
zerreisst sie, was mild sie gewebt, –
ich schliesse die Augen und sage:
Ich habe geliebt und gelebt!
Das Gefühl, wenn ein Lied erklingt, es ist, als ob die Musik uns erlöst.
Ich bin überzeugt, dass im Innersten eines jeden die Vernunft und das rationale Denken vorherrschen, während die Hoffnung eher oberflächlich erscheint, wie eine zarte Staubschicht, die sich um unseren Kern legt. In jedem Menschen wohnt jenes undefinierbare Etwas, das in dem Moment, in dem die Hoffnung in einem klirrenden Zerbrechen zusammenfällt, leise verkündet: „Ich hab’s ja gewusst.“
Du wusstest es immer, doch du wolltest es nicht anerkennen, du wolltest hoffen. Du sehntest dich nach Farbe, nach intensiven Gefühlen, denn für dich ist das tiefste Schwarz lebendiger als jede graue Farblosigkeit. Die prickelnden Ameisen auf der Haut, das donnernde Herzklopfen in den Ohren, schweissnasse Finger, all das bezeugt dein echtes Erleben. Du könntest dir deine Besessenheit oder vermeintliche Faszination eingeredet haben und dabei selbst misstrauisch werden, aber du verschliesst deine Ohren vor der kalten Stimme der Vernunft und beharrst darauf, dass es im Leben etwas geben muss, das ihm dieses gewisse Etwas verleiht.
Die Besonderheit.
Und dann, fast augenblicklich, entzündest du wieder den Hoffnungsschimmer, wartest, bis die Dunkelheit den Raum erfüllt, und schwebst mit deinen Träumen davon, als würdest du spiralförmig in die Schwärze eintauchen.
Gerade in der Nacht ist die Sehnsucht am intensivsten.
Trag mich nach Hause, wo immer das ist, bring mich in die Wärme einer Umarmung und halt mich nicht fest, aber fest im Arm. Ich brauche nicht mehr nur eine Schulter zum Anlehnen, ich brauche zwei davon und einen Rücken, auf den ich mich stützen kann, wenn mir die Knie weich werden und meine Stimme versagt angesichts der Größe der Geschichten, die das Leben so schreibt. Lass mich atmen und weinen.
Das Buch zur Wortmalerei
Rainer Maria Rilke
Glück
Ob flüchtig wie ein Windhauch im Sommer, aufregend wie das erste Knospen von Blumen im Frühling oder beruhigend wie ein warmer Sommerregen – das Glück ist bei Rainer Maria Rilke stets das höchste und zarteste Gut, nach dem der Mensch sich sehnt.
Und dazu passt ja auch “Irgendeinisch fingt ds Glück eim” von Züri West
No. 18 Du musst das Leben nicht verstehen
Du musst das Leben nicht verstehen
Du musst das Leben nicht verstehen,
dann wird es werden wie ein Fest.
Und lass dir jeden Tag geschehen
so wie ein Kind im Weitergehen von jedem Wehen
sich viele Blüten schenken lässt.
Sie aufzusammeln und zu sparen,
das kommt dem Kind nicht in den Sinn.
Es löst sie leise aus den Haaren,
drin sie so gern gefangen waren,
und hält den lieben jungen Jahren
nach neuen seine Hände hin.
Zwischen Leichtigkeit und Last
Tag für Tag wandere ich durch die Landschaften des Denkens, Gebirge und Tiefebenen gleichermassen. Worte liegen wie Steine auf meinem Weg. Ich steige über die leichten, um die schwereren zu erreichen, stolpere über die Wurzeln des Unausgesprochenen und ringe mit den Hindernissen des Unwegsamen. Manche Worte halte ich für einen Moment fest, sie scheinen zu schön, zu vollkommen, um sie nicht mit mir zu nehmen, doch sie entziehen sich meiner Hand. Andere Worte, die ich kritisch betrachte, verwirft mein Geist, und dennoch schleichen sie sich, wie von einer inneren Kraft getrieben, immer wieder in meinen Rucksack zurück.
Dieser Rucksack wird schwerer, mit jedem Schritt. Die Frage drängt sich auf: Soll ich ihn entleeren, mich von altem Ballast trennen, um weiterzugehen, oder sollte ich innehalten und die Last akzeptieren, sie zu einem Teil meines Seins machen? So wie jede Entscheidung ein Risiko birgt, birgt jeder Weg die Möglichkeit des Abgrunds. Doch bleibt man auf Normalnull, wird man niemals die Spannung des Seiltanzes erfahren, eine Balance zwischen Festhalten und Loslassen.
Wir warten nicht mehr, das Warten haben wir aufgegeben, lange schon, zu lange, um sagen zu können: nur ein Weilchen. Ein Weilchen, ein kleines bisschen nur, das war früher einmal, als wir noch dachten, dass das alles schnell wieder vorbei sein wird, dass es nur mal kurz eine Durststrecke ist, eine kurze Zeit, die wir uns vertreiben können mit Sommer und Sonne, mit Wind im Haar und Kuchen im Bauch, einen Lidschlag lang eben mal nicht im Höhenflug schweben. Mit den Tagen und Nächten wurden unsere Schritte schwerer und schwerer, die Füsse immer mehr zu Beton und die Gedanken erst recht. Und eines Morgens dann wachten wir auf und stellten fest, dass uns etwas an den Boden gekettet hat, dass uns etwas das Fliegen verweigerte, das Schweben und Taumeln und Loslassen, eines grauen Morgens kam mit dem Aufwachen die Erkenntnis. Oha, dachte ich, oha – während draussen eine Meise sang und ich die Hoffnung nicht aufgab.
No. 17.1 Vorgefühl
Vorgefühl
Ich bin wie eine Fahne von Fernen umgeben.
Ich ahne die Winde, die kommen, und muss sie leben,
während die Dinge unten sich noch nicht rühren:
die Türen schliessen noch sanft, und in den Kaminen
ist Stille;
die Fenster zittern noch nicht, und der Staub ist noch
schwer.
Da weiss ich die Stürme schon und bin erregt wie das
Meer.
Und breite mich aus und falle in mich hinein
und werfe mich ab und bin ganz allein
in dem grossen Sturm.
Die Worte, die der Wind nahm
Hin und wieder spürte ich die Sonne auf der Haut, die sich aus den zerzausten Wolken befreite. Dazu den Wind und deine Worte. Was hast du zu mir gesagt? Was hast du mir erzählt? Wenn ich mich nur an alles erinnern könnte.
In jener Zeit waren wir unsterblich. Das Leben erschien uns so lang.
Ich spürte die Sonne und den Wind und deine Worte auf der Haut, und nichts anderes zählte.
Sturm der Gedanken
Die Menschen ziehen vorbei, an diesem Café, in dem ich sitze, heute, an diesem Tag. Sie gehen, laufen, rennen, doch sie bleiben immer im falschen Moment stehen.
Mein Zeigefinger berührt einen hellen Krümel, winzig genug, um einen Schatten auf die Tischplatte zu werfen. Ein Überbleibsel eines Nussgipfels. Ich schiebe ihn langsam weiter, bis er über den Rand fällt und auf einer Schuhspitze zur Ruhe kommt. Dort bleibt er liegen.
Liegenbleiben. Geht man einundzwanzig Buchstaben weiter, wird daraus Liebenbleiben. Dieses Wort umhüllt mich sanft, als sei es selbst eine kleine, zärtliche Geste des Bleibens. Vielleicht könnte aus manchem Liegenbleiben ein Liebenbleiben werden, wenn man sich nur ein Stück weiter wagt.
Den Gedanken werfe ich in hohem Bogen zum Fenster hinaus. Dort bleibt er.
Vor Kurzem ging ich eine Strasse entlang. Ein geparktes Auto, darin eine Frau, rauchend. Ich hätte mich gern neben sie gesetzt, wir hätten geschwiegen, nebeneinander, den Blick auf die Strasse gerichtet. Keine Fragen, kein Gespräch. Nur das Teilen eines Moments.
Seit zehn Sätzen starre ich auf die Staubschicht meiner Nachttischlampe. Das weisse Blatt vor mir scheint mich herauszufordern. Ich fürchte es. Als könnte es mich angreifen, sobald ich ihm noch ein weiteres Wort hinzufüge. Also steige ich unter die Dusche.
Das Wasser legt sich über meine Haut wie ein Film ohne Abspann. Ich versuche, die Strudel im Abfluss aufzuhalten, doch da ist nichts, was ich festhalten könnte. Meine Hände tragen die Spuren der Stadt, meine Haut ist aufgeraut vom Sturm.
Der Text „Sturm der Gedanken“ war die erste Idee zu diesen Wortmalereien. Doch ich war nicht zufrieden damit. Nach einer kurzen Schreibblockade entstand schliesslich „Die Worte, die der Wind nahm“, ein kurzer Text, mit dem ich nun zufrieden bin.
No. 17 Alles ist eins
Alles ist eins
Einmal, am Rande des Hains,
stehn wir einsam beisammen
und sind festlich, wie Flammen
fühlen: Alles ist Eins.
Halten uns fest umfasst;
werden im lauschenden Lande
durch die weichen Gewande
wachsen wie Ast an Ast.
Wiegt ein erwachender Hauch
die Dolden des Oleanders:
sieh, wir sind nicht mehr anders,
und wir wiegen uns auch.
Meine Seele spürt,
dass wir am Tore tasten.
Und sie fragt dich im Rasten:
Hast Du mich hergeführt?
Und du lächelst darauf
so herrlich und heiter
und: bald wandern wir weiter:
Tore gehn auf..
Und wir sind nichtmehr zag,
unser Weg wird kein Weh sein,
wird eine lange Allee sein
aus dem vergangenen Tag.
Alles ist ein Moment, der bleibt
Es gibt solche Wochen, in denen kein Stein auf dem anderen bleibt. Dinge, die lange in der Schwebe waren, brechen zusammen. Dissonanzen eskalieren, und Unkenntnis weist den falschen Weg.
Die vergangenen Tage fühlten sich an wie die schlimmsten Träume: Ich irrte durch enge, verbauten Gänge, stand vor unüberwindbaren Hindernissen und obwohl ich in meinen Träumen oft mühelos Wände erklimmen oder fliegen kann, fehlte dieses Gefühl der Freiheit diesmal. Orientierungslos stolperte ich durch Dunkelheit, ohne Ziel, das Tageslicht schmerzlich vermissend, und ohne Menschen, die mir helfen oder wenigstens Auskunft geben könnten.
Bei Tag waren es natürlich keine tatsächlichen Gänge, sondern das graue Wetter, das ein Gefühl der Enge hervorrief. Dazu kamen die verschiedensten Hindernisse, die es zu überwinden galt. Ich gehöre zu denjenigen, die kaum arbeiten können, wenn hinter ihnen ein Berg unerledigter Probleme lauert. Die Migräne war schliesslich das lauteste Alarmzeichen, doch wo ein Alarm ertönt, ist die Lösung oft noch weit entfernt.
Und doch, wie so oft, reicht es, ein Problem entschlossen anzupacken, und plötzlich lösen sich auch die anderen Schwierigkeiten. Es ist ein Domino-Effekt: Fällt eines, fallen sie alle. Jetzt bin ich erschöpft und unausgeschlafen, aber dennoch froh.
Trotz der Panik fand ich die Zeit, „Gesang der Fledermäuse“ von Olga Tokarczuk zu lesen. Ein beklemmendes Buch, gruselig auf seine Weise, aber unglaublich faszinierend und bewegend.
Die Kunst des Aufschiebens
Ob Texte sich nicht von allein schreiben? Manchmal scheint das tatsächlich der Hintergedanke zu sein, die stille Hoffnung. Dass sich die Worte in meinem Kopf ganz automatisch zu einem Gefüge formen und sich unsichtbar auf das Papier ergiessen, von selbst, mühelos. Warum sonst finde ich immer wieder andere Beschäftigungen, weiche aus, schiebe das Wichtige vor mir her wie eine Kehrschaufel einen Berg Schmutz. Doch anstatt sich in Gold zu verwandeln, wächst und wächst dieser Berg aus Unordnung und bleibt, was er ist.
Gedanken, die ziellos schweifen, führen nicht zum Ziel. Stattdessen umkreisen sie es, immer wieder daran vorbei, wie ein Suchscheinwerfer, wie der Streifen eines Leuchtturms, rastlos und doch ohne wahre Richtung. Und während die Zeit unaufhaltsam verstreicht, sitze ich da, bis ich ganz durchsichtig werde, kaum mehr als ein blasses Flimmern. Leeres Gerede füllt die Lücken; ich lese Halbsätze im Halbschlaf und klicke mich durch ganze Universen, ohne dass etwas davon in mir haften bleibt.
Wann habe ich zuletzt laut gelacht? Wann laut gedacht: Es gibt nichts Wertvolleres als ein bisschen Freizeit? Frei, in Augenblicken, in Zelten, in grossen Zeiten, mitzumischen, aufzutischen, aufzuheitern. Ein Stück Entspannung zwischen all dem Ziehen und Zerren. Eine Lücke im Getümmel, eine Brise auf der schweissnassen Stirn. Aber wer arbeitet heute noch so, dass ihm der Schweiss von den Beinen rinnt? Das macht man doch, eben, nur noch in seiner Freizeit. Schweiss erzeugen.
Leise, doch bedeutungsvolle Schritte. Etwas in mir schält sich heraus, wie eine reife Frucht, wie ein verpupptes Tier, das seine Hülle sprengt und fällt. Ein Klumpen Haut bleibt zurück, das, was übrig bleibt. Das bin ich.
„Gesang der Fledermäuse“ ist weit mehr als ein Kriminalroman: Olga Tokarczuk entwirft hier ein poetisches, subversives und zugleich verstörendes Panorama der menschlichen Verlorenheit.
Im Zentrum steht Janina Duszejko, eine eigenwillige ältere Frau, passionierte Tierliebhaberin und Hobbyastrologin, die sich am Rande eines abgelegenen polnischen Dorfes zunehmend in die Abgründe ihrer Umgebung verstrickt. Die Serie rätselhafter Todesfälle unter den Dorfmännern ist dabei weniger ein klassisches Krimi-Motiv als ein Anlass für grössere Fragen.
Tokarczuk nutzt Janinas Stimme, um eine tiefgreifende Anklage gegen patriarchale, religiöse und gesellschaftliche Systeme zu formulieren. Systeme, die Natur, Empathie und individuelle Freiheit gleichermassen unterdrücken.
In einer Sprache, die zwischen zarter Melancholie und scharfem Sarkasmus changiert, stellt der Roman die drängende Frage: Was bedeutet Gerechtigkeit und wer nimmt sich das Recht, sie herzustellen?
„Gesang der Fledermäuse“ ist zugleich ein ökologisches Manifest, eine Parabel über die Zerbrechlichkeit des Lebens und eine kritische Meditation über die moralische Blindheit unserer Zeit.
Tokarczuks Werk öffnet Räume für Zweifel, Widerspruch und Staunen. Und hallt lange nach dem letzten Satz im Leser nach.
No. 16 Begegnung
Begegnung
Zu solchen Stunden gehn wir also hin
und gehen jahrelang zu solchen Stunden:
auf einmal ist ein Horchender gefunden,
und alle Worte haben Sinn.
Alle Gebärden sind auf einmal gross
und ausgewachsen wie ein Flügelschlagen,
sie scheinen uns einander zuzutragen,
und wir sind noch vom Fluge atemlos, –
wenn schon das Schweigen kommt, auf das wir warten,
kommt wie die Nacht, von grossen Sternen breit:
zwei Menschen wachsen wie im selben Garten,
und dieser Garten ist nicht in der Zeit.
Das erste Wort wird beide wieder trennen,
ein jeder ist, mehr als vorher, allein;
sie werden lächeln und sich kaum erkennen,
aber sie werden beide grösser sein.
Das Jetzt festhalten und loslassen
Im Hier und Jetzt zu leben hat für mich eine tiefe Bedeutung – und doch stellt es mich immer wieder vor Herausforderungen. Wir erzählen die Geschichten der Vergangenheit und träumen von den Möglichkeiten der Zukunft. Dabei wird das Hier und Jetzt unwiderruflich zum Teil des Morgens, und das Morgen schliesslich zum Teil des Gestern.
Momente der Ruhe und des Glücks finde ich besonders dann, wenn ich allein bin. Diese Augenblicke ermöglichen es mir, innezuhalten, Dankbarkeit zu empfinden und mich ganz in Zufriedenheit zu verlieren. Doch auch in Gesellschaft gelingt es mir, den Moment zu geniessen – selbst bei spontanen Begegnungen. In solchen Situationen schalte ich bewusst meinen Verstand aus, öffne mein Herz und nehme die positiven Energien um mich herum auf – oft so intensiv, dass mir vor Freude eine Träne über die Wange läuft.
Aus solchen Momenten entstehen nicht selten Bilder für meine Kunstprojekte – Porträts, die die Tiefe und Authentizität der Begegnung einfangen. Doch manchmal lasse ich die Kamera bewusst beiseite, um den Moment in seiner ganzen Unmittelbarkeit zu erleben. Das kann ich zwar später bereuen, wenn keine bleibenden Erinnerungen entstanden sind, aber der reine Augenblick fühlt sich oft so wertvoll an, dass ich diesen Kompromiss eingehe.
Bei besonderen Anlässen wie Geburtstagsfeiern oder einem Sommertag am Meer halte ich die Momente dennoch gerne für meine Familie und Freunde fest. Es sind meist spontane, ungezwungene Schnappschüsse. Gelegentlich bin auch ich selbst auf einem Bild zu sehen – meist in einem inszenierten Rahmen. Doch lieber ein gestelltes Foto, als später durch die Bilder zu blättern und das Gefühl zu haben, nie wirklich dabei gewesen zu sein.



“Während des Einkaufs sprach ich sie spontan an und fragte, ob sie Interesse hätte, bei meinem Projekt "Wortmalereien" mitzuwirken. Zu meiner Freude sagte sie zu, und wir entschieden uns, uns bei einem Kaffee näher kennenzulernen. Am Nachmittag trafen wir uns schliesslich bei ihr zu Hause, wo diese Bilder entstanden sind.”
No. 15 Tränenkrüglein
Tränenkrüglein
Andere fassen den Wein, andere fassen die Öle
in dem gehöhlten Gewölb, das ihre Wandung umschrieb.
Ich, als ein kleineres Mass und als schlankestes, höhle
mich einem andern Bedarf, stürzenden Tränen zulieb.
Wein wird reicher, und Öl klärt sich noch weiter im Kruge.
Was mit den Tränen geschieht? – Sie machten mich schwer,
machten mich blinder und machten mich schillern am Buge,
machten mich brüchig zuletzt und machten mich leer.
Schweigen und Sehnen
Schweigen, um des Friedens willen. In der Komfortzone verharren, um sich selbst und andere nicht zu belasten – darin sind wir geübt. Was uns jedoch schwerfällt: mit den Konsequenzen zu leben. Innerlich rennen wir, bis uns die Luft ausgeht, bis der Atem stockt und die Ausreden mit ihm versiegen. Bis die Füsse wund sind und das brennende Salz unserer Tränen auf der Haut jeden anderen Schmerz überdeckt.
Die Angst ist nicht rational, aber sie ist allgegenwärtig. Sich einlassen bedeutet loslassen – und gerade deshalb halten wir lieber fest. In meinem Kopf kreisen Bilder, Melodien und Texte, Befürchtungen und auch du. Wer Berge erklimmt, weiss stets um die Gefahr des Abgrunds. Doch während ich auf Normalnull bleibe, wünsche ich mir, ein Seiltänzer zu sein.
"Der folgende Text und das dazugehörige Bild sind einige Tage später entstanden.”
Ich hasse es, wie gleichgültig den Menschen alles ist, wie verdammt gleichgültig.
Sie sehen die Schönheit in den Dingen nicht. Sie sehen nicht, wer ich bin, was ich bin; sie wollen es nicht sehen. Es interessiert sie einfach nicht.Vor den Kopf gestossen, das bin und wurde ich; wieder und wieder. Die Blicke, die an mir vorbeigleiten, sind wie Schläge ins Gesicht; jedes Lachen, das nicht mir gilt, sticht beherzt zu; Nadel in mein Herz, mein Herz als Nadelkissen. Ja, das Bild gefällt mir, und – fingernaegel auf meiner haut; weisse kratzspuren, die bald verblassen werden – ich merke: Der Blick richtet sich nach innen, wenn die Welt dort draussen zusammenbricht. Nach innen, ins Dunkle; da, wo keine Stimmen verletzen können und keine Geste die Tränen in mir hoch kochen lässt. Nur ich und leere Worte und der Wunsch, an nichts denken zu können.
No. 14 Am Rande der Nacht
Am Rande der Nacht
Meine Stube und diese Weite,
wach über nachbetendem Land, –
ist Eines. Ich bin eine Saite,
über rauschende breite
Resonanzen gespannt.
Die Dinge sind Geigenleiber,
von murrendem Dunkel voll;
drin träumt das Weinen der Weiber,
drin rührt sich im Schlafe der Groll
ganzer Geschlechter...
Ich soll
silbern erzittern: dann wird
Alles unter mir leben,
und was in den Dingen irrt,
wird nach dem Lichte streben,
das von meinem tanzenden Tone,
um welchen der Himmel wellt,
durch schmale, schmachtende Spalten
in die alten
Abgründe ohne
Ende fällt
Zwischen Tag und Nacht
Wenn die Sonne untergeht, spüren wir das doppelte Gewicht und unsere Beine scheinen kaum noch zu tragen. Weder dich, noch deine Wunden oder deine Zweifel. Doch was macht das schon? Vom Zusammenbruch sind wir weit entfernt, so weit, dass am anderen Ende unserer Gedanken noch Mittag herrscht, während hier der Abend wie ein Einschlaflied über uns rollt. Wir sind weder nachtblind noch vom Tageslicht benommen, nur leicht verwirrt über die Tatsache, dass nichts uns aus der Bahn wirft.
In letzter Zeit kann ich nachts nicht einschlafen. Oft wird es 3 oder sogar 4 Uhr morgens, bevor ich endlich etwas Schlaf finde. Solange lese ich oder lausche dem Regen. Wenn es nicht regnet, was meistens der Fall ist, höre ich meinen Gedanken zu. Das ist nicht unbedingt leicht und auch nicht angenehm, aber ich werde immer besser darin, es auszuhalten.
Manchmal reise ich dabei in der Zeit vor und zurück, bis mir schwindelig wird. Ich sage mir, dass ich ein alter Mann bin, in der Hoffnung, dieser Satz bringt mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Doch er macht mich nur traurig. Die Ratlosigkeit, in der ich mich schlaflos verliere, berührt er nicht.
Ich dachte immer, alte Leute seien einverstanden damit, alt zu sein. Ich dachte, wenn ich überhaupt über alte Leute nachdachte, Alte seien einfach ganz und gar alte Leute. Doch das Alter ist eine Überraschung. Ja es überrascht mich immer wieder, plötzlich alt zu sein.
No. 12.1 Der Lesende
Der Lesende
Ich las schon lang. Seit dieser Nachmittag,
mit Regen rauschend, an den Fenstern lag.
Vom Winde draussen hörte ich nichts mehr:
mein Buch war schwer.
Ich sah ihm in die Blätter wie in Mienen,
die dunkel werden von Nachdenklichkeit,
und um mein Lesen staute sich die Zeit. -
Auf einmal sind die Seiten überschienen,
und statt der bangen Wortverworrenheit
steht: Abend, Abend... überall auf ihnen.
Ich schau noch nicht hinaus, und doch zerreissen
die langen Zeilen, und die Worte rollen
von ihren Fäden fort, wohin sie wollen...
Da weiss ich es: über den übervollen
glänzenden Gärten sind die Himmel weit;
die Sonne hat noch einmal kommen sollen. -
Und jetzt wird Sommernacht, soweit man sieht:
zu wenig Gruppen stellt sich das Verstreute,
dunkel, auf langen Wegen, gehn die Leute,
und seltsam weit, als ob es mehr bedeute,
hört man das Wenige, das noch geschieht.
Und wenn ich jetzt vom Buch die Augen hebe,
wird nichts befremdlich sein und alles gross.
Dort draussen ist, was ich hier drinnen lebe,
und hier und dort ist alles grenzenlos;
nur dass ich mich noch mehr damit verwebe,
wenn meine Blicke an die Dinge passen
und an die ernste Einfachheit der Massen, -
da wächst die Erde über sich hinaus.
Den ganzen Himmel scheint sie zu umfassen:
der erste Stern ist wie das letzte Haus.
Die verlorene Besinnlichkeit
Man verpasst es, unbemerkt. Diese Besinnlichkeit, das Runterkommen und mal nicht Rumwuseln, das Einkuscheln in eine Decke mit einer Kanne Tee und in einem Buch lesen, das In-die-Luft-gucken und einfach glücklich sein. Aufwachen und feststellen, dass die Zeit viel zu schnell vergeht zwischen unausgeschlafen Arbeit und totmüde ins Bett fallen, aufwachen und trotzdem weiterschlafen innendrin, nur zwischendurch mal die Augen aufmachen, wenn dir das Herz aufgeht für ein paar Stunden oder ein paar Minuten, plop, wie eine Flasche Wein und dann schnell daraus trinken so viel nur geht, bevor es sich leise mit einem Ziehen in der Brust wieder schliesst.
Am Rande der Nacht I
Ein neues Bild
Anfangs las ich widerwillig, doch bald konnte ich nicht mehr aufhören, wie bei einem Buch, das man erst liest, weil man es muss, und das einen plötzlich packt.
Ich hatte ein neues Bild gemalt. Es war das erste Werk, das ich unten rechts signierte, und ich stellte es im Shop ein. Nach drei Tagen wurde es von einer Käuferin erworben. Ich machte noch ein Foto davon, schlug es vorsichtig in Papier ein und brachte es zur Post.
Vier Wochen später fand ich in meinem Postfach eine vorsichtige Nachricht, die sich las wie ein leises Anklopfen an einer Tür, von der man nicht weiss, was sich dahinter verbirgt. Sie fragte, ob sie mir schreiben dürfe. Ich war unschlüssig, was ich antworten sollte, und schrieb schliesslich: Ja. Als ich am Abend nach Hause kam, fand ich eine neue Nachricht von ihr vor.
„Darf ich dir erzählen, was mir durch den Kopf geht, wenn ich das Bild sehe? Warum ich es unbedingt haben musste?“
Ich wollte ihr den Spass nicht verderben, tippte ein kurzes Ja und klickte die Nachricht weg. Ich war gerade ausreichend beschäftigt und hatte nicht die Musse, mich tiefer damit zu befassen. Wochenlang hörte ich nichts mehr von ihr. Dann kam eine neue Nachricht. Diesmal war sie mehrere Seiten lang. Sie schrieb von dem Bild, von erfüllten Wünschen, von Ideen, die sie abgehakt hatte, und von durchkreuzten Plänen. Von Hunger und Sehnsüchten. Von Farben, Hass, Wut, Trauer und vielen Gefühlen. Mit erbarmungsloser Offenheit.
Anfangs las ich widerwillig, doch bald konnte ich nicht mehr aufhören, wie bei einem Buch, das man erst liest, weil man es muss, und das einen plötzlich packt. Die Nachricht liess mich fassungslos zurück. Aber ich konnte ihr nicht antworten. Drei Wochen lang war ich danach damit beschäftigt, alles neu zu ordnen. Dann antwortete ich.
Die Monate vergingen, und bald schrieben wir uns schon ein Jahr lang. Unsere Leben waren wie ein Riesenrad, das sich immer weiter drehte: Wir stiegen ein und aus, doch kurz darauf stiegen wir immer wieder ein, auf eine neue Fahrt mit der Hoffnung auf eine neue Aussicht. Oft fehlte uns das Geld für Fahrkarten, also fuhren wir schwarz und zitterten nervös, dass niemand es bemerken würde. Wir standen an den Fenstern der Gondeln, sahen nach draussen und blickten lange auf den Horizont. Manchmal erzählten wir einander von der Aussicht, die doch immer die gleiche war und sich doch mit den Tages- und Jahreszeiten veränderte.
Das Jahr ging zu Ende und der Frühling nahte. Sie hatte Urlaub. Ich auch.
Die Strassenbeleuchtung erlosch gerade, als ich mich früh morgens in den Zug setzte. Allein drei Nachtigallen in einem Baum machen noch keinen Frühling, doch eine Ahnung vom Ende des Winters hing in der Morgendämmerung zwischen zwei Strassenzügen. Nach zwei Stunden stand ich vor einem hässlichen, ockergelben Hochhaus, das nur die Morgensonne in ein schönes Licht tauchen konnte. Ich stieg zwei Stufen zum Eingang hoch und läutete an der Haustür. Ein Summen ertönte, ich drückte und ging langsam die Stufen hinauf. Sie wohnte im zweiten Stock.
Sie stand schon in der Tür und war hübscher als auf den Handyfotos. Ich beobachtete ihre Mimik. Für einen winzigen Augenblick erkannte ich eine Irritation in ihrem Blick, sie sah mich noch einmal an. Eine kleine Enttäuschung lag zwischen uns auf der Fussmatte. Wie einen alten Schuh trat sie sie mit einer Fussbewegung zur Seite, bat mich herein, hängte meine Jacke an die Garderobe, goss Kaffee in zwei Becher und setzte sich zu mir an den Küchentisch. Und dann redeten wir. Redeten, redeten, redeten.
Diese Vertrautheit in der Fremde. Diese Verwirrung, jemanden zu sehen, eine Unbekannte, deren Innerstes man so gut kennt. Ich versuchte, alles, was ich aus ihren Nachrichten und den Telefonaten mit ihr wusste, zusammen mit ihrer Mimik, ihren Gesten, ihren Bewegungen, ihrem Körper, zu einem Bild zusammenzufügen. Ich hatte ein Kratzen im Hals, wenn ich schluckte.
Heute schreiben wir uns immer noch regelmässig. Sie ist verheiratet und hat ein Kind und erzählt mir von Zeit zu Zeit ihre Lebenserlebnisse.
No. 12 Und du warst schön
Und du warst schön
Und du warst schön. In deinem Auge schien
sich Nacht und Sonne sieghaft zu versöhnen.
Und Hoheit hüllte wie ein Hermelin
dich ein: So kam dich meine Liebe krönen.
Und meine nächteblasse Sehnsucht stand,
weissbindig wie der Vesta Priesterin,
an deines Seelentempels Säulenrand
und streute lächelnd weisse Blüten hin.
Die Flucht in die Nacht
Draussen ist es eiskalt und es regnet, die Luft im Raum ist schwer. Die letzte Milchflasche steht leer auf dem Boden neben dem Bett. Als wir erwachen, blinzeln wir ins Licht. Der Morgen ist zu hell für unsere Augen. Wenn wir die Augen beim Küssen schliessen, wie sollten wir dann das Morgenlicht ertragen können? Wir sind träge, unsere Körper schwer von der Nacht, wir bewegen uns wie Katzen und schleichen langsam durch die Räume. Wir sind nicht für das Drinnen gemacht. Wir müssen durch die Strassen ziehen, durch Gassen streunen, uns verstecken, wo uns niemand finden kann. Irgendwann werden wir an einem Ort ankommen, den ausser uns niemand kennt. Von dort aus werden wir die Stadt von oben sehen, Kaffee trinken und zwischen Zucker und Milch über die Welt reden. Noch einmal werden wir uns fragen, was wir mitnehmen, wenn sie untergeht. Und wir werden uns wundern, warum immer das, was wir am meisten lieben, vergeht. Und wir werden schweigen. Kein Wort verlieren über das, was uns zusammenhält. Wir, die wir uns verkleidet haben, damit niemand unsere Mission bemerkt. Die wir bei Tag ein Leben führen wie alle anderen und verheimlichen, was uns in Wahrheit antreibt.
Denn du wirst deine Jacke unter deinem roten Pullover tragen, und ich werde meine Ohren unter einer grossen schwarzen Kappe verstecken. Wir werden uns über unsere Tassenränder hinweg zunicken, denn nur wir wissen, was niemand erfahren darf: Wir sind nicht hier, um zu lieben. Nicht, um zu leiden, und nicht, um zu sehnen. Irgendwann wird es Nacht sein und die Dunkelheit wird uns umfangen. Wir werden auf die Stadt blicken, die unter uns im Nebel versinkt. Dann wirst du mich ansehen, und ich werde das Leuchten in deinen Augen sehen, wenn du sagst:
„Du bist Teil der Nacht, genau wie ich. Wir haben keine Angst vor der Dunkelheit. Denn die Nacht hält uns am Leben.“
Du wirst an der Brüstung stehen, ich werde an der Wand lehnen, dein Profil betrachten und nachdenken. Dann werde ich noch einmal hinunterblicken, wo nur noch wenige Autos Lichtstreifen über die Strassen ziehen. Wo sich kaum ein Mensch mehr nach draussen verirrt. Ich werde an den Häusern vorbei zum Horizont sehen und wieder daran denken, dass ich immer einen Meter weiter sehen wollte als alle anderen. Dann werde ich dich an der Schulter antippen und sagen:
„Lass uns gehen.“
No. 10 Einsamkeit
Einsamkeit
Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.
Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig von einander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:
dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen...
Die stumme Begleitung
Ich bin traurig. Jeder weiss das, und diejenigen, die es nicht wissen, kennen mich auch sonst nicht. Diese Menschen zählen nicht. Aber selbst die, die es wissen, haben nichts geändert. Haben sie irgendetwas unternommen? Nein. Ich bin nicht die Einzige, die sich eine andere Antwort wünscht... Ich habe nur noch einen Begleiter. Es ist, als sässe jemand neben mir und hielte ständig meine Hand. Ja, es ist kalt, ja, der Griff ist ein bisschen zu fest, und ja, ich kann nicht immer dorthin gehen, wo ich hin möchte. Aber wenigstens ist da jemand. Wenigstens hält jemand meine Hand.
Diese Begleitung ist die Traurigkeit. Auch wenn sie mir meinen Mut, mein Lächeln und den leichten, warmen Atem nimmt. Das alles habe ich sowieso schon verlernt, nicht wahr? In diesem Leben habe ich keine Verwendung für strahlende Augen und glockenhelles Lachen, für Erwartungen und naive Hoffnungen. Ich habe nur die Traurigkeit. Sie hat für mich einen Wert. Ich kann mich an sie anlehnen, sie nimmt mich in den Arm und bleibt bei mir, wenn sonst alle gegangen sind.
Ist es mir egal, dass sie mich umbringen wird? Die Nacktheit und Verwundbarkeit ohne ihre Hand in meiner Nähe würden mich ebenfalls töten. Also, was soll die Frage? Hast du nicht zugehört? Die Traurigkeit ist alles, was ich noch habe. Ich kann nicht mehr ohne sie, ich weiss nicht, wie es anders geht. Ich will es auch gar nicht wissen. Nicht mehr. Ich will mich endlich fallen lassen dürfen, ich will endlich loslassen und jeden Sonnenstrahl hinter den Wolken vergessen dürfen. Ja, vielleicht sind da welche, aber die Wolken sind auch da – wie soll ich sie leugnen? Ich kann das nicht mehr. Also bitte, lasst uns allein. Ab hier nur noch wir beide, ohne den Rest, der uns eh nie wollte.
Das Bild entstand an einem Mittag und soll die Nacktheit und Verlassenheit der Einsamkeit zeigen. An diesem regnerischen und grauen Tag ohne Sonnenschein wurde die Trostlosigkeit und das Gefühl des Alleinseins zusätzlich eindrucksvoll unterstrichen.
Der Begleittext entstand nach einem tiefgehenden und aufrichtigen Gespräch mit einer Frau, die ihre innersten Gefühle offenbart hat. In einem Moment der Verwundbarkeit hat sie ihr Herz ausgeschüttet und die überwältigende Traurigkeit geteilt, die sie begleitet. Der Text soll uns daran erinnern, wie wichtig es ist, zuzuhören und für diejenigen da zu sein, die mit ihren Emotionen kämpfen.
Diese Zeilen verdeutlichen, wie Traurigkeit ein ständiger Begleiter sein kann, der sowohl Trost als auch Schmerz bringt. Die Frau beschreibt eindrucksvoll, wie sie sich an diese Traurigkeit klammert, da sie das Einzige ist, was ihr geblieben ist, und wie diese Traurigkeit ihr gleichzeitig den Mut und die Freude nimmt.
Dieses bewegende Zeugnis der menschlichen Erfahrung erinnert uns daran, wie wertvoll Empathie und Verständnis sind. Es lädt uns ein, einen Moment innezuhalten und darüber nachzudenken, wie wir anderen helfen können, wenn sie es am meisten brauchen.
Wenn du oder jemand, den du kennst, Hilfe benötigt, vergiss nicht, dass es Hilfsstellen gibt. Die Dargebotene Hand hat ein offenes Ohr auch im Notfall:
Telefon: 143
Internet: www.143.ch
Die Berater der Dargebotenen Hand sind erfahren darin, auch Menschen mit drängenden Suizidgedanken weiterzuhelfen.
Dieses Bild habe ich wenige Tage nach unserem Gespräch gezeichnet. Mit der Erlaubnis von U zeige ich es hier und möchte Dir von ganzem Herzen für das Vertrauen danken, das Du mir entgegengebracht hast und weiterhin entgegenbringst.
Merci viu, viu mau.
No. 9.1 Eine emotionale Reise
Die Liebenden
Sieh, wie sie zueinander erwachsen:
in ihren Adern wird alles Geist.
Ihre Gestalten beben wie Achsen,
um die es heiss und hinreissend kreist.
Dürstende, und sie bekommen zu trinken,
Wache und sieh: sie bekommen zu sehn.
Lass sie ineinander sinken,
um einander zu überstehn.
Eine emotionale Reise
Manchmal habe ich Angst, dass du nur in meinem Kopf existierst, dass du ein Hirngespinst bist, das ich wie Tagträume, Schutzschilder und Demoplakate gegen die Ungerechtigkeit der Welt mit mir herumtrage. Manchmal fürchte ich mich und manchmal fürchte ich dich und das, was zwischen uns passiert – ob es nun wirklich geschieht oder nur in meinen Gedanken. Dann wieder ist dein Kuss so real, dein Lächeln und dein Geruch, der an mir haftet und den ich mit Inbrunst und einer leisen Angst festhalten möchte. Dein Duft, dein Lächeln, deine Hände in meinem Nacken – ich will sagen: dort gehören sie hin, genau dort. Doch dann holt mich die Realität zurück, ins Hier und Jetzt – du bist nicht da, dein Lächeln nur in meinem Kopf und deine Hände irgendwo. Du bist nicht da, dein Lächeln nur in meinem Kopf und meine Gefühle weissgottwo, wie in einem Traum, durchgeschüttelt von Emotionen.
Zu Beginn des Projekts für diese Karte stand die Idee, ein Bild der Dirigentin zu schaffen, das die Musik in den Mittelpunkt rückt, inspiriert von Rilkes Gedicht "Die Liebenden". Die Vision war, die Dirigentin in einem Moment der Hingabe an die Musik festzuhalten. Am Ende des Projekts entstand ein Bild voller Licht und Wärme, das die Frau in ihrer ganzen Anmut und Stärke zeigt. Dieses Bild verkörpert nun die Essenz der Musik und die Tiefe der Emotionen, die sie hervorruft. Es bringt gleichzeitig einen Wunsch für das neue Jahr mit sich – möge es erfüllt sein mit vielen schönen Momenten, der Magie der Musik sowie zahlreichen neuen Begegnungen und Erlebnissen, die unsere Herzen erfüllen.
Ein weiteres Mal hatte ich das Vergnügen, einen wunderbaren Menschen zu fotografieren. Das Bild entstand mit zwei Lampen, einer Lichterkette und einem schwarzen Tuch in einem engen Raum. Der begleitende Text "Eine emotionale Reise" entstand nach der Bearbeitung der ersten Bilder.
Nach dem Schreiben, Fotografieren, Malen und all den Schritten, die zur Fertigstellung dieser Karte nötig waren, kuschelte ich mich mit einer Flasche Rotwein auf dem Sofa ein. Ich lies Vivaldis "Die vier Jahreszeiten" erklingen, beginnend mit dem Frühling, durch den Sommer und Herbst bis hin zum Winter und wieder zurück.
In Momenten wie diesen, tauche ich tief in die Musik ein und lasse mich von den Melodien tragen, während ich den Zauber des Augenblicks geniesse.
No. 8 Aus der Trübe
Aus der Trübe
Aus der Trübe müder Überdruss
reisst, die wir einander bebend bringen,
uns die Botschaft. Welche? Wir verbringen -
Ach wann waren Worte diese Küsse?
Diese Küsse waren einmal Worte;
stark gesprochen an der Tür ins Freie
zwangen sie die Pforte.
Oder waren diese Küsse Schreie ..
Schreie auf so schönen Hügeln, wie sie
deine Brüste sind. Der Himmel schrie sie
in den Jugendjahren seiner Stürme.
Die Sprache der Küsse
„Ich trage ein Geheimnis in mir, das ich mit dir teilen möchte“, flüsterte ich. „Ich habe eine Botschaft für dich.“ Ihr Blick ruhte auf mir, ihre tiefen, grünen Augen suchten nach Antworten. „Welche Botschaft, mein Lieber?“ „Die Worte sind erschöpft“, gestand ich. „Sie können nicht mehr ausdrücken, was wir fühlen. Aber unsere Küsse – sie sind lebendig. Sie hallen wie Schreie über die Hügel und verbinden uns.“ Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie verstand, was ich meinte. Unsere Küsse waren unsere eigene Sprache, unsere Leidenschaft. Sie drückten mehr aus als Worte es je könnten. Gemeinsam standen wir unter dem alten Eichenbaum, unsere Lippen trafen sich, und die Welt verschwamm um uns herum. Wenn der Wind über die Hügel im Emmental strich, flüsterten wir uns unsere Liebe zu. Und wenn die Stürme tobten, schrien unsere Küsse lauter als je zuvor.
Rainer Maria Rilke, begann 1914 eine Liebesaffäre mit Lou Albert-Lasard, die bis 1916 dauerte. Während dieser Zeit entstanden zahlreiche Liebesgedichte, die Rilke an Lou richtete. Er schrieb etwa einhundert Gedichte, die er fortlaufend nummerierte und ihr mit dem Titel “Dir zur Feier” widmete. Obwohl die beiden vereinbarten, dass diese Gedichte zu ihren Lebzeiten nicht veröffentlicht werden sollten, sind 48 dieser Gedichte in ihrem Nachlass erhalten geblieben.
Das Gedicht "Aus der Trübe" ist ein eindrucksvolles Beispiel für Rilkes Fähigkeit, tiefgehende Emotionen und komplexe Bilder zu vermitteln. Es befasst sich mit den Themen Liebe, Verlangen und Kommunikation, und wie diese durch Zeit und Erfahrung transformiert werden. Rilkes Verwendung von Metaphern und Symbolen lässt die Worte lebendig werden und schafft eine Verbindung zwischen den Lesern und den beschriebenen Gefühlen.
Das Bild fand seine Inspiration in einem Brief und einem Gedicht, die Rilke an Lou schrieb. Der Text wiederum entstand aus einer lebhaften Diskussion über das Küssen, das niemals vernachlässigt werden sollte.
No. 7. 1 Advent
Advent
Es treibt der Wind im Winterwalde
die Flockenherde wie ein Hirt,
und manche Tanne ahnt, wie balde
sie fromm und lichterheilig wird,
und lauscht hinaus. Den weissen Wegen
streckt sie die Zweige hin – bereit,
und wehrt dem Wind und wächst entgegen
der einen Nacht der Herrlichkeit.
Der Zauber des Advents
Du öffnest die Orangensaftflasche, giesst dir ein Glas ein und stellst sie zurück. Ich sage: „Danke, dass du fragst, aber ich habe noch.“ Ich ziehe meine Knie ans Kinn, fahre mit den Fingern durch mein Haar wie mit einem Kamm und schaue aus dem Fenster. Das Müllauto rollt über die Kreuzung, und der Mann mit dem grossen Hund schlendert wie jeden Tag um diese Zeit gemächlich zwischen den parkenden Autos entlang. Ansonsten ist es ruhig.
Es ist Adventszeit, und niemand scheint jetzt den Drang zu haben, die Welt zu verändern – das verschiebt man lieber ins neue Jahr. Und dann ist da das Grünzeug: Der Baum wird ausgesucht, gekauft, vorsichtig nach Hause gebracht, aufgestellt, gewässert und liebevoll geschmückt. Bald liegen die Geschenke darunter, der Baum erstrahlt im Licht und wird besungen, und inmitten all dieser Vorbereitungen entsteht eine warme, festliche Atmosphäre. Vielleicht kippt er später einmal um und wird wieder aufgerichtet – auch das gehört dazu. Nach den Feiertagen wird er dann entkleidet, abgebaut und schliesslich entsorgt – ebenso ein Teil des Rituals wie das Schmücken und Aufstellen.
„Wo wollen wir dieses Jahr eigentlich unseren Tannenbaum kaufen?“ frage ich lächelnd.
Ich wünsche euch von Herzen frohe Weihnachten und zahlreiche Momente voller Freude und Inspiration. Vielen Dank für eure wunderbare Unterstützung. Möge euer Weihnachtsfest erfüllt sein von Licht, Farben und Wärme.
No. 7 Lösch mir die Augen aus
Lösch mir die Augen aus
Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn,
wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören,
und ohne Füsse kann ich zu dir gehn,
und ohne Mund noch kann ich dich beschwören.
Brich mir die Arme ab, ich fasse dich
mit meinem Herzen wie mit einer Hand,
halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen,
und wirfst du in mein Hirn den Brand,
so werd ich dich auf meinem Blute tragen.
Eisiges Herz und Dunkle Nächte
Bier statt Fragen, Tequila statt Tränen. Wir zerbrechen nicht, nur das Herz wird uns kalt, wie ein Klumpen Eis in der Brust. Und du stehst da, wie angewurzelt, mal nicht davonlaufen, sondern leise beten, dass man das alles vielleicht nur träumt. Ein Bild brennt sich in meine Netzhaut ein und eine Narbe reisst auf, es blutet nicht, es eitert nur. Die Nacht verschlingt mich, frisst mich mit Haut und Haaren und spuckt bittere Galle aus. In dieser Stadt ist es einsam, nachts um halb zwei. Die Lichter lügen. Beton statt Ziegelsteine, eine Mauer aus einem Guss für mich und dein gefrorenes Meer. Wir fühlen uns schwer und schwerer angesichts der Leichtigkeit. Da kommen Dinge ans Licht, die keine Namen verdienen – nenn sie Dinge und reiss dich zusammen. Sammel dich vom Boden auf, zwischen den Kippen und den Pfützen und den vielen zertretenen Freuden liegt ein Stück Herz. Beinahe wäre ich daraufgetreten. Oh, es gehört mir, na sowas. Anschnallen, weitertanzen, die Füsse im Himmel, das Hirn unterm Arm und das Herz, das Herz...
(Seltsam, denke ich, wie Gedichte, obwohl sie willkürlich ausgewählt wurden, manchmal eine Art Gedankenlinie bilden. Wie sie Berührungspunkte schaffen, die ich dann versuche zu verbinden. Wie durch diese Verbindungen Bilder entstehen, manchmal dazu sogar eine Art Erkenntnis. Es drängt sich der Gedanke auf, dass eigentlich die Gedichte mich aussuchen und dann abwarten. Abwarten, um anzukommen und im besten Fall nicht nur mich zu berühren. Als wären sie Teil einer grossen Geschichte: Und keiner von uns jemals wieder allein. Sondern Teil eines Wissens, das immer schon da war, aber vergessen wurde.)
(Seit ich denken kann, faszinieren mich Augen. Ihre Komplexität und Ausdruckskraft haben mich immer wieder in ihren Bann gezogen. Dieses Bild habe ich mit Öl auf Papier gemalt und mit einem Spachtel bearbeitet. An diesem Werk habe ich regelmässig an vier Tagen gearbeitet, um die Tiefe und Lebendigkeit der Augen einzufangen. Jede Schicht Farbe und jeder Spachtelstrich war ein weiterer Schritt in die Welt der Emotionen und Geheimnisse, die Augen erzählen können.)
No. 6 Die roten Rosen waren nie so rot
Die roten Rosen waren nie so rot
Die roten Rosen waren nie so rot
Als an dem Abend, der umregnet war.
Ich dachte lange an dein sanftes Haar ...
Die roten Rosen waren nie so rot.
Es dunkelten die Büsche nie so grün
Als an dem Abend in der Regenzeit.
Ich dachte lange an dein weiches Kleid ...
Es dunkelten die Büsche nie so grün.
Die Birkenstämme standen nie so weiss
Als an dem Abend, der mit Regen sank;
Und deine Hände sah ich schön und schlank ...
Die Birkenstämme standen nie so weiss.
Die Wasser spiegelten ein schwarzes Land
An jenem Abend, den ich regnen fand;
So hab ich mich in deinem Aug erkannt ...
Die Wasser spiegelten ein schwarzes Land.
Ein Augenblick für die Ewigkeit
Und sie sieht mich an, ich blicke zurück –und plötzlich verschiebt sich alles, ein
unsichtbares Band zieht mich zu ihr hin. Der Rest der Welt verblasst, wird beinahe bedeutungslos, und erst, als sich unsere Lippen berühren, wird mir die Aussenwelt wieder bewusst. Leise flüstere ich ihren Namen, Ausdruck meiner hilflosen Freude und der Unfassbarkeit des Moments. Sie hat mein Leben soeben auf den Kopf gestellt. Ist das wirklich passiert? Es ist so überwältigend, so unfassbar gross.
Auf dem Rückweg finde ich ihre Hand, und dann legt sie ihren Arm um meine Schulter – so selbstverständlich. Ich schlinge meinen Arm um ihre Hüfte und halte ihre Finger fest, die mit ihren langsamen Streichelbewegungen eine unsagbar beruhigende Wirkung haben. Ich fühle mich – glücklich? Ja. Ja, verdammt.
Später, als sie mit dem Rücken an einen Baum gelehnt sass und sprach, legte ich, einem plötzlichen Impuls folgend, meinen Kopf in ihren Schoss. Ich sagte etwas, irgendetwas. Es war nicht wichtig. Wichtig war nur, einfach da zu sein. Meine Hand strich sanft ihren Arm entlang. Sie sprach von Ängsten, von Sehnsüchten; ich setzte mich auf und fand ihren Blick, diesen unbeschreiblich schönen Blick. Noch nie habe ich mich so aufgehoben gefühlt.
Als sie gehen musste, sträubte ich mich, sass trotzig auf dem Fleckchen Erde und wollte nicht, dass die Zeit ohne sie weiterlief. "Komm schon," sagte sie und ging in die Hocke, ein Lächeln auf den Lippen. Die Zeit schien zu stolpern. "Ich dich auch," flüsterte sie, ein rascher Kuss auf meiner Wange. Sie zog mich hoch, ein letzter Blick – und ich wusste, ich konnte nicht verloren gehen. Ihre Wärme wie ein Schutzschild, ein sanfter Kokon. Sicherheit. Die Gewissheit, zu jemandem zurückkehren zu können, Halt zu suchen und ihn zu finden. Das ist so schön.
(Das Gedicht reflektiert die Intensität von Erinnerungen und Empfindungen. In meiner Interpretation deutet die Behauptung, dass die Rosen niemals so rot waren, darauf hin, dass vergangene Erfahrungen im Licht der Gegenwart intensiver und bedeutungsvoller erscheinen. Es legt nahe, dass unsere Wahrnehmung der Welt stark von unseren inneren Emotionen und Erinnerungen beeinflusst wird. Diese roten Rosen symbolisieren nicht nur Schönheit, sondern auch die Vergänglichkeit solcher intensiver Momente und die Sehnsucht, sie festzuhalten.
Das gemalte Bild entstand kurz nachdem ich den Text geschrieben hatte und war noch auf der Staffelei, als wir die Fotos nach einer intensiven Diskussion mit nur zwei LED-Panels erstellten.)
No. 5 Magie
Magie
Aus unbeschreiblicher Verwandlung stammen
solche Gebilde-: Fühl! und glaub!
Wir leidens oft: zu Asche werden Flammen;
doch: in der Kunst: zur Flamme wird der Staub.
Hier ist Magie. In das Bereich des Zaubers
scheint das gemeine Wort hinaufgestuft...
und ist doch wirklich wie der Ruf des Taubers,
der nach der unsichtbaren Taube ruft.
Die Magie des Lebens
Vielleicht ist dieses Dahintreiben, dieses Aufstehen, Arbeiten und Freizeitgestalten ohne grosses Nachdenken, der eigentliche Normalzustand. Wenn dem so ist, dann habe ich meine Alltagssorgen und die versteckten Wunder, die man leicht übersieht, weil man den Blick stur geradeaus richtet und weder nach links noch nach rechts oder gar in den Himmel schaut, ganz gut im Griff. Dort oben gibt es derzeit ohnehin wenig zu sehen, bei all den Wolken und dem Grau.
Vielleicht ist das genau das, was ich momentan brauche – und dennoch wünsche ich mir insgeheim einen Wolkenbruch. Denn nach dem Regen kommt die Sonne, und ich gebe die Hoffnung nicht auf. Es ist die Magie des Lebens, die uns immer wieder überrascht und uns zeigt, dass nach jedem Sturm ein neuer Anfang wartet.
(Mein Aufruf zur Wertschätzung der geheimnisvollen Aspekte des Lebens ist eine Einladung, das Unerklärliche zu umarmen. In einer Welt, die von Logik und Vernunft dominiert wird, sollten wir die Magie des Unbekannten nicht vergessen. Diese rätselhaften Momente bereichern unser Leben und lassen uns staunen.)
PS:
Gestern verliess ich widerwillig das Haus und wurde sofort von einem fantastischen Himmel mit leuchtendem Blau und Grautönen überrascht. Meine Laune stieg schlagartig! Manchmal genügt eine kleine Überraschung draussen, um die Welt wieder schön zu finden. Auch Dürer lernte im Alter, das Einfache zu schätzen: „Als ich jung war, erstrebte ich Vielfalt und Neuheit; nun in meinem Alter habe ich begonnen, das natürliche Gesicht der Natur zu sehen...“
No. 4 Vor lauter Lauschen und Staunen sei still
Vor lauter Lauschen und Staunen sei still
Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,
du mein tieftiefes Leben;
dass du weisst, was der Wind dir will,
eh noch die Birken beben.
Und wenn dir einmal das Schweigen sprach,
lass deine Sinne besiegen.
Jedem Hauche gieb dich, gieb nach,
er wird dich lieben und wiegen.
Und dann meine Seele sei weit, sei weit,
dass dir das Leben gelinge,
breite dich wie ein Feierkleid
über die sinnenden Dinge.
Momente im Kreis der Zeit
Kurz vor halb, eine kleine Endzeit aus Licht. Wir haben uns um etliche Stunden verschoben. Keiner kann das alles wirklich ernst meinen; das stellen wir immer wieder fest. Am Lagerfeuer, zwischen unseren schönsten Mollakkorden, die wir niemals verlassen. Ein Spiel ist das schon lange nicht mehr. Ein Seebad, ein Waldstrand. Ein Lied dazwischen, ein Tee zwischen dem einen Bild und dir. So gut wie die Momente, in denen das alles wahr war. Das steht fest, sagst du. Augenblicke jahrhundertealter Momente in unseren Farben. Mit ein bisschen Fantasie. Bezüge aus Stoff, deren Geschichten wir gerne hören würden, doch niemand spricht. Klartext im Museum. Wir drehen uns nicht oft um, nur im Kreis. Keine Minute zum Zurückschauen, alles dahinten wirkt wie eingefroren.Lass uns den Strom abstellen, zurück schwimmen und Steine sammeln. Ein Flussbett.
Der Himmel ist ganz verbogen, wir zogen an ihm. Zu sehr vorbei. Dein Weltraumtext lässt uns tanzen, staunen, träumen.
(Das Gedicht vermittelt in meiner Interpretation die Botschaft, das Geheimnis der Welt zu erkennen. Es erinnert uns daran, dass wahre Erkenntnis oft in den stillen, achtsamen Momenten entsteht, in denen wir uns dem Lauschen und Staunen hingeben.)
PS: Die vierte Karte meines Jahresprojekts entstand nach meiner Auszeit und leider ist mir dabei die Zeit etwas davongelaufen. Beim Versand der Karten ist daher ein Missgeschick passiert: Ich habe sie nicht in Seidenpapier verpackt. Asche über mein Haupt.
No. 3 Liebes-Lied
Liebes-Lied
Wie soll ich meine Seele halten, dass
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiter schwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Geiger hat uns in der Hand?
O süsses Lied.
Die Poesie des Alltags
Befand, dass es ein guter Zeitpunkt sei, die Mikrowelle zu säubern. Schrieb einen Liebesbrief. Bezog mein Bett mit weissen Laken. Dachte nach. Löffelte Kuchen, er war in der Mitte ganz feucht, weich und warm. Schnitt mir in den Finger beim Teilen einer Zitrone. Überlegte, das Blut aufzufangen und als Tinte zu verwenden. Kochte heisse Schokolade und verbrannte mir die Unterlippe. Schürfte mir das Herz auf und es blutete nicht. Las den Brief, der seit Tagen ungeöffnet meinen Flur blockierte wie ein Stein einen Regenwurm. Sammelte Wörter, um sie aufzuschreiben. Doch es gab kein Papier und der Füller hatte keine Tinte mehr. Stellte fest, dass es nichts Schönes gab, das sich auf Liebe reimte. Betrachtete die tanzenden Sterne vor meinen Augen, als mir schwindlig wurde. Trank Wasser so schnell, als wollte ich es einatmen. Verschluckte mich und schnappte nach Luft. Ging zum Fenster und sah Pfützenwasser unter den Reifen des einzigen Autos dieser Stunde hochspritzen. Schaltete das Licht im Atelier ein. Versammelte die Fliegen dort und knallte die Türe hinter ihnen zu. Zündete eine Kerze an. Von ihrem Rauch stiegen mir Tränen in die Augen, als ich sie auspustete. Erspürte die Rauheit des Bodens unter meinen nackten Füssen. Trank Wein und spielte mit dem Glas zwischen meinen Fingern. Bemerkte, dass ich diese Bewegung sonst nur machte, wenn ich Wein nicht alleine trank. Sprach mit mir, und dabei wusste ich doch eh schon, was ich zu sagen hatte. Hörte mir nicht zu. Überlegte, ob “Triebe” ein schönes Reimwort wäre. Duschte. Legte mich mit nassem Haar auf das Bett und sah den Wassertropfen beim Fallen zu. Vergrub meine Nase in den Kissen und atmete weiche Haut. 05:38.
Gute Nacht.
(Das Bild, das nach dieser schlaflosen Nacht in einem kleinen Raum mit vielen schwarzen Decken aufgenommen wurde, soll die Stimmung dieser Erlebnisse einfangen. Die schwarzen Decken symbolisieren die Dunkelheit und Intimität der Nacht, während der enge Raum die Begrenztheit der Gedankenwelt widerspiegelt. Inspiriert von Rilkes “Liebeslied”, das die tiefen Verbindungen und die Unruhe der Seele thematisiert, könnte bzw. sollte das Bild eine melancholische, aber auch beruhigende Atmosphäre vermitteln, die die Essenz des Gedichts und dieser Nacht einfängt.)
No. 2 Guter Tag
Guter Tag
Da prüft man doch: was bringt er?
Und wie langsam liest man seine Schrift.
Rascher, reiner, kühner, unbedingter:
oh wie uns die Freude übertrifft.
Ist uns als Künftigste zuvor,
wendet sich und blickt und macht uns schneller,
und wir folgen wie die Vogelsteller,
und das Herz klingt oben bis ins Ohr.
Glück: was rollt das schwer auf seinem Rade,
müde, immer wieder unbereit;
aber Freude steht und blüht gerade,
und wir treten an die Jahreszeit.
Ein Tag voller Glück
An Tagen, die nach schlaflosen Nächten beginnen, ist es nie das Erwartete, das eintritt. An solchen Tagen, an denen nichts gut zu sein scheint, kommt nur das Unerwartete vorbei. Es klopft nicht an, wartet nicht ab, sondern tritt unbemerkt ein. Und es tut leise, was es kann.
Es gräbt Spuren in die Haut, streut Lachen in die Augen und Glück auf jeden Zentimeter der vergehenden Zeit. So wird der Tag zu einem einzigen Fest: mit Kaffee und schaumiger Milch, Himbeeren im Garten, Sonne auf der Haut und dem Ende eines guten Buchs. Ein altes, klappriges Fahrrad, Shorts und Sandalen, Fahrtwind um die Beine, Saft und Honigmelone, Musik, die im Magen kribbelt, Füsse, die tanzen, ein Mond, der hinter Wolken leise wacht – all das füllt diesen Tag aus. Und am Ende steht ein Moment, in dem das Glück durch unsere Adern fliesst, ein Lächeln in unseren Gesten tanzt und Freude in unseren Gesichtern steht wie ein Ausrufezeichen. An diesem Tag könnten wir vor Glück platzen, denn wir haben einen Hafen, Wein, Hoffnung, diesen Abend, diese Nacht, dieses Leben – und vor allem haben wir uns. Das ist das grösste Glück von allen.
(Das Foto wurde an einem sonnigen Tag im Garten aufgenommen. Es war ein guter Tag, der die Schönheit des Augenblicks einfing. Nach einer Phase der Traurigkeit kehrte die Freude zurück.)