No. 17 Alles ist eins
Alles ist eins
Einmal, am Rande des Hains,
stehn wir einsam beisammen
und sind festlich, wie Flammen
fühlen: Alles ist Eins.
Halten uns fest umfasst;
werden im lauschenden Lande
durch die weichen Gewande
wachsen wie Ast an Ast.
Wiegt ein erwachender Hauch
die Dolden des Oleanders:
sieh, wir sind nicht mehr anders,
und wir wiegen uns auch.
Meine Seele spürt,
dass wir am Tore tasten.
Und sie fragt dich im Rasten:
Hast Du mich hergeführt?
Und du lächelst darauf
so herrlich und heiter
und: bald wandern wir weiter:
Tore gehn auf..
Und wir sind nichtmehr zag,
unser Weg wird kein Weh sein,
wird eine lange Allee sein
aus dem vergangenen Tag.
Alles ist ein Moment, der bleibt
Es gibt solche Wochen, in denen kein Stein auf dem anderen bleibt. Dinge, die lange in der Schwebe waren, brechen zusammen. Dissonanzen eskalieren, und Unkenntnis weist den falschen Weg.
Die vergangenen Tage fühlten sich an wie die schlimmsten Träume: Ich irrte durch enge, verbauten Gänge, stand vor unüberwindbaren Hindernissen und obwohl ich in meinen Träumen oft mühelos Wände erklimmen oder fliegen kann, fehlte dieses Gefühl der Freiheit diesmal. Orientierungslos stolperte ich durch Dunkelheit, ohne Ziel, das Tageslicht schmerzlich vermissend, und ohne Menschen, die mir helfen oder wenigstens Auskunft geben könnten.
Bei Tag waren es natürlich keine tatsächlichen Gänge, sondern das graue Wetter, das ein Gefühl der Enge hervorrief. Dazu kamen die verschiedensten Hindernisse, die es zu überwinden galt. Ich gehöre zu denjenigen, die kaum arbeiten können, wenn hinter ihnen ein Berg unerledigter Probleme lauert. Die Migräne war schliesslich das lauteste Alarmzeichen, doch wo ein Alarm ertönt, ist die Lösung oft noch weit entfernt.
Und doch, wie so oft, reicht es, ein Problem entschlossen anzupacken, und plötzlich lösen sich auch die anderen Schwierigkeiten. Es ist ein Domino-Effekt: Fällt eines, fallen sie alle. Jetzt bin ich erschöpft und unausgeschlafen, aber dennoch froh.
Trotz der Panik fand ich die Zeit, „Gesang der Fledermäuse“ von Olga Tokarczuk zu lesen. Ein beklemmendes Buch, gruselig auf seine Weise, aber unglaublich faszinierend und bewegend.
Die Kunst des Aufschiebens
Ob Texte sich nicht von allein schreiben? Manchmal scheint das tatsächlich der Hintergedanke zu sein, die stille Hoffnung. Dass sich die Worte in meinem Kopf ganz automatisch zu einem Gefüge formen und sich unsichtbar auf das Papier ergiessen, von selbst, mühelos. Warum sonst finde ich immer wieder andere Beschäftigungen, weiche aus, schiebe das Wichtige vor mir her wie eine Kehrschaufel einen Berg Schmutz. Doch anstatt sich in Gold zu verwandeln, wächst und wächst dieser Berg aus Unordnung und bleibt, was er ist.
Gedanken, die ziellos schweifen, führen nicht zum Ziel. Stattdessen umkreisen sie es, immer wieder daran vorbei, wie ein Suchscheinwerfer, wie der Streifen eines Leuchtturms, rastlos und doch ohne wahre Richtung. Und während die Zeit unaufhaltsam verstreicht, sitze ich da, bis ich ganz durchsichtig werde, kaum mehr als ein blasses Flimmern. Leeres Gerede füllt die Lücken; ich lese Halbsätze im Halbschlaf und klicke mich durch ganze Universen, ohne dass etwas davon in mir haften bleibt.
Wann habe ich zuletzt laut gelacht? Wann laut gedacht: Es gibt nichts Wertvolleres als ein bisschen Freizeit? Frei, in Augenblicken, in Zelten, in grossen Zeiten, mitzumischen, aufzutischen, aufzuheitern. Ein Stück Entspannung zwischen all dem Ziehen und Zerren. Eine Lücke im Getümmel, eine Brise auf der schweissnassen Stirn. Aber wer arbeitet heute noch so, dass ihm der Schweiss von den Beinen rinnt? Das macht man doch, eben, nur noch in seiner Freizeit. Schweiss erzeugen.
Leise, doch bedeutungsvolle Schritte. Etwas in mir schält sich heraus, wie eine reife Frucht, wie ein verpupptes Tier, das seine Hülle sprengt und fällt. Ein Klumpen Haut bleibt zurück, das, was übrig bleibt. Das bin ich.
„Gesang der Fledermäuse“ ist weit mehr als ein Kriminalroman: Olga Tokarczuk entwirft hier ein poetisches, subversives und zugleich verstörendes Panorama der menschlichen Verlorenheit.
Im Zentrum steht Janina Duszejko, eine eigenwillige ältere Frau, passionierte Tierliebhaberin und Hobbyastrologin, die sich am Rande eines abgelegenen polnischen Dorfes zunehmend in die Abgründe ihrer Umgebung verstrickt. Die Serie rätselhafter Todesfälle unter den Dorfmännern ist dabei weniger ein klassisches Krimi-Motiv als ein Anlass für grössere Fragen.
Tokarczuk nutzt Janinas Stimme, um eine tiefgreifende Anklage gegen patriarchale, religiöse und gesellschaftliche Systeme zu formulieren. Systeme, die Natur, Empathie und individuelle Freiheit gleichermassen unterdrücken.
In einer Sprache, die zwischen zarter Melancholie und scharfem Sarkasmus changiert, stellt der Roman die drängende Frage: Was bedeutet Gerechtigkeit und wer nimmt sich das Recht, sie herzustellen?
„Gesang der Fledermäuse“ ist zugleich ein ökologisches Manifest, eine Parabel über die Zerbrechlichkeit des Lebens und eine kritische Meditation über die moralische Blindheit unserer Zeit.
Tokarczuks Werk öffnet Räume für Zweifel, Widerspruch und Staunen. Und hallt lange nach dem letzten Satz im Leser nach.