No. 12.1 Der Lesende

Der Lesende

Ich las schon lang. Seit dieser Nachmittag,
mit Regen rauschend, an den Fenstern lag.
Vom Winde draussen hörte ich nichts mehr:
mein Buch war schwer.
Ich sah ihm in die Blätter wie in Mienen,
die dunkel werden von Nachdenklichkeit,
und um mein Lesen staute sich die Zeit. -
Auf einmal sind die Seiten überschienen,
und statt der bangen Wortverworrenheit
steht: Abend, Abend... überall auf ihnen.
Ich schau noch nicht hinaus, und doch zerreissen
die langen Zeilen, und die Worte rollen
von ihren Fäden fort, wohin sie wollen...
Da weiss ich es: über den übervollen
glänzenden Gärten sind die Himmel weit;
die Sonne hat noch einmal kommen sollen. -
Und jetzt wird Sommernacht, soweit man sieht:
zu wenig Gruppen stellt sich das Verstreute,
dunkel, auf langen Wegen, gehn die Leute,
und seltsam weit, als ob es mehr bedeute,
hört man das Wenige, das noch geschieht.

Und wenn ich jetzt vom Buch die Augen hebe,
wird nichts befremdlich sein und alles gross.
Dort draussen ist, was ich hier drinnen lebe,
und hier und dort ist alles grenzenlos;
nur dass ich mich noch mehr damit verwebe,
wenn meine Blicke an die Dinge passen
und an die ernste Einfachheit der Massen, -
da wächst die Erde über sich hinaus.
Den ganzen Himmel scheint sie zu umfassen:
der erste Stern ist wie das letzte Haus.

Die verlorene Besinnlichkeit

Man verpasst es, unbemerkt. Diese Besinnlichkeit, das Runterkommen und mal nicht Rumwuseln, das Einkuscheln in eine Decke mit einer Kanne Tee und in einem Buch lesen, das In-die-Luft-gucken und einfach glücklich sein. Aufwachen und feststellen, dass die Zeit viel zu schnell vergeht zwischen unausgeschlafen Arbeit und totmüde ins Bett fallen, aufwachen und trotzdem weiterschlafen innendrin, nur zwischendurch mal die Augen aufmachen, wenn dir das Herz aufgeht für ein paar Stunden oder ein paar Minuten, plop, wie eine Flasche Wein und dann schnell daraus trinken so viel nur geht, bevor es sich leise mit einem Ziehen in der Brust wieder schliesst.

Am Rande der Nacht I

Ein neues Bild

Anfangs las ich widerwillig, doch bald konnte ich nicht mehr aufhören, wie bei einem Buch, das man erst liest, weil man es muss, und das einen plötzlich packt.

Ich hatte ein neues Bild gemalt. Es war das erste Werk, das ich unten rechts signierte, und ich stellte es im Shop ein. Nach drei Tagen wurde es von einer Käuferin erworben. Ich machte noch ein Foto davon, schlug es vorsichtig in Papier ein und brachte es zur Post.

Vier Wochen später fand ich in meinem Postfach eine vorsichtige Nachricht, die sich las wie ein leises Anklopfen an einer Tür, von der man nicht weiss, was sich dahinter verbirgt. Sie fragte, ob sie mir schreiben dürfe. Ich war unschlüssig, was ich antworten sollte, und schrieb schliesslich: Ja. Als ich am Abend nach Hause kam, fand ich eine neue Nachricht von ihr vor.

„Darf ich dir erzählen, was mir durch den Kopf geht, wenn ich das Bild sehe? Warum ich es unbedingt haben musste?“

Ich wollte ihr den Spass nicht verderben, tippte ein kurzes Ja und klickte die Nachricht weg. Ich war gerade ausreichend beschäftigt und hatte nicht die Musse, mich tiefer damit zu befassen. Wochenlang hörte ich nichts mehr von ihr. Dann kam eine neue Nachricht. Diesmal war sie mehrere Seiten lang. Sie schrieb von dem Bild, von erfüllten Wünschen, von Ideen, die sie abgehakt hatte, und von durchkreuzten Plänen. Von Hunger und Sehnsüchten. Von Farben, Hass, Wut, Trauer und vielen Gefühlen. Mit erbarmungsloser Offenheit.

Anfangs las ich widerwillig, doch bald konnte ich nicht mehr aufhören, wie bei einem Buch, das man erst liest, weil man es muss, und das einen plötzlich packt. Die Nachricht liess mich fassungslos zurück. Aber ich konnte ihr nicht antworten. Drei Wochen lang war ich danach damit beschäftigt, alles neu zu ordnen. Dann antwortete ich.

Die Monate vergingen, und bald schrieben wir uns schon ein Jahr lang. Unsere Leben waren wie ein Riesenrad, das sich immer weiter drehte: Wir stiegen ein und aus, doch kurz darauf stiegen wir immer wieder ein, auf eine neue Fahrt mit der Hoffnung auf eine neue Aussicht. Oft fehlte uns das Geld für Fahrkarten, also fuhren wir schwarz und zitterten nervös, dass niemand es bemerken würde. Wir standen an den Fenstern der Gondeln, sahen nach draussen und blickten lange auf den Horizont. Manchmal erzählten wir einander von der Aussicht, die doch immer die gleiche war und sich doch mit den Tages- und Jahreszeiten veränderte.

Das Jahr ging zu Ende und der Frühling nahte. Sie hatte Urlaub. Ich auch.

Die Strassenbeleuchtung erlosch gerade, als ich mich früh morgens in den Zug setzte. Allein drei Nachtigallen in einem Baum machen noch keinen Frühling, doch eine Ahnung vom Ende des Winters hing in der Morgendämmerung zwischen zwei Strassenzügen. Nach zwei Stunden stand ich vor einem hässlichen, ockergelben Hochhaus, das nur die Morgensonne in ein schönes Licht tauchen konnte. Ich stieg zwei Stufen zum Eingang hoch und läutete an der Haustür. Ein Summen ertönte, ich drückte und ging langsam die Stufen hinauf. Sie wohnte im zweiten Stock.

Sie stand schon in der Tür und war hübscher als auf den Handyfotos. Ich beobachtete ihre Mimik. Für einen winzigen Augenblick erkannte ich eine Irritation in ihrem Blick, sie sah mich noch einmal an. Eine kleine Enttäuschung lag zwischen uns auf der Fussmatte. Wie einen alten Schuh trat sie sie mit einer Fussbewegung zur Seite, bat mich herein, hängte meine Jacke an die Garderobe, goss Kaffee in zwei Becher und setzte sich zu mir an den Küchentisch. Und dann redeten wir. Redeten, redeten, redeten.

Diese Vertrautheit in der Fremde. Diese Verwirrung, jemanden zu sehen, eine Unbekannte, deren Innerstes man so gut kennt. Ich versuchte, alles, was ich aus ihren Nachrichten und den Telefonaten mit ihr wusste, zusammen mit ihrer Mimik, ihren Gesten, ihren Bewegungen, ihrem Körper, zu einem Bild zusammenzufügen. Ich hatte ein Kratzen im Hals, wenn ich schluckte.

Heute schreiben wir uns immer noch regelmässig. Sie ist verheiratet und hat ein Kind und erzählt mir von Zeit zu Zeit ihre Lebenserlebnisse.

 

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