No. 12 Und du warst schön

Und du warst schön


Und du warst schön. In deinem Auge schien

sich Nacht und Sonne sieghaft zu versöhnen.

Und Hoheit hüllte wie ein Hermelin

dich ein: So kam dich meine Liebe krönen.

Und meine nächteblasse Sehnsucht stand,

weissbindig wie der Vesta Priesterin,

an deines Seelentempels Säulenrand

und streute lächelnd weisse Blüten hin.

Die Flucht in die Nacht

Draussen ist es eiskalt und es regnet, die Luft im Raum ist schwer. Die letzte Milchflasche steht leer auf dem Boden neben dem Bett. Als wir erwachen, blinzeln wir ins Licht. Der Morgen ist zu hell für unsere Augen. Wenn wir die Augen beim Küssen schliessen, wie sollten wir dann das Morgenlicht ertragen können? Wir sind träge, unsere Körper schwer von der Nacht, wir bewegen uns wie Katzen und schleichen langsam durch die Räume. Wir sind nicht für das Drinnen gemacht. Wir müssen durch die Strassen ziehen, durch Gassen streunen, uns verstecken, wo uns niemand finden kann. Irgendwann werden wir an einem Ort ankommen, den ausser uns niemand kennt. Von dort aus werden wir die Stadt von oben sehen, Kaffee trinken und zwischen Zucker und Milch über die Welt reden. Noch einmal werden wir uns fragen, was wir mitnehmen, wenn sie untergeht. Und wir werden uns wundern, warum immer das, was wir am meisten lieben, vergeht. Und wir werden schweigen. Kein Wort verlieren über das, was uns zusammenhält. Wir, die wir uns verkleidet haben, damit niemand unsere Mission bemerkt. Die wir bei Tag ein Leben führen wie alle anderen und verheimlichen, was uns in Wahrheit antreibt.

Denn du wirst deine Jacke unter deinem roten Pullover tragen, und ich werde meine Ohren unter einer grossen schwarzen Kappe verstecken. Wir werden uns über unsere Tassenränder hinweg zunicken, denn nur wir wissen, was niemand erfahren darf: Wir sind nicht hier, um zu lieben. Nicht, um zu leiden, und nicht, um zu sehnen. Irgendwann wird es Nacht sein und die Dunkelheit wird uns umfangen. Wir werden auf die Stadt blicken, die unter uns im Nebel versinkt. Dann wirst du mich ansehen, und ich werde das Leuchten in deinen Augen sehen, wenn du sagst:

„Du bist Teil der Nacht, genau wie ich. Wir haben keine Angst vor der Dunkelheit. Denn die Nacht hält uns am Leben.“

Du wirst an der Brüstung stehen, ich werde an der Wand lehnen, dein Profil betrachten und nachdenken. Dann werde ich noch einmal hinunterblicken, wo nur noch wenige Autos Lichtstreifen über die Strassen ziehen. Wo sich kaum ein Mensch mehr nach draussen verirrt. Ich werde an den Häusern vorbei zum Horizont sehen und wieder daran denken, dass ich immer einen Meter weiter sehen wollte als alle anderen. Dann werde ich dich an der Schulter antippen und sagen:

„Lass uns gehen.“

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No. 12.1 Der Lesende

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Abschied