No. 17.1 Vorgefühl
Vorgefühl
Ich bin wie eine Fahne von Fernen umgeben.
Ich ahne die Winde, die kommen, und muss sie leben,
während die Dinge unten sich noch nicht rühren:
die Türen schliessen noch sanft, und in den Kaminen
ist Stille;
die Fenster zittern noch nicht, und der Staub ist noch
schwer.
Da weiss ich die Stürme schon und bin erregt wie das
Meer.
Und breite mich aus und falle in mich hinein
und werfe mich ab und bin ganz allein
in dem grossen Sturm.
Die Worte, die der Wind nahm
Hin und wieder spürte ich die Sonne auf der Haut, die sich aus den zerzausten Wolken befreite. Dazu den Wind und deine Worte. Was hast du zu mir gesagt? Was hast du mir erzählt? Wenn ich mich nur an alles erinnern könnte.
In jener Zeit waren wir unsterblich. Das Leben erschien uns so lang.
Ich spürte die Sonne und den Wind und deine Worte auf der Haut, und nichts anderes zählte.
Sturm der Gedanken
Die Menschen ziehen vorbei, an diesem Café, in dem ich sitze, heute, an diesem Tag. Sie gehen, laufen, rennen, doch sie bleiben immer im falschen Moment stehen.
Mein Zeigefinger berührt einen hellen Krümel, winzig genug, um einen Schatten auf die Tischplatte zu werfen. Ein Überbleibsel eines Nussgipfels. Ich schiebe ihn langsam weiter, bis er über den Rand fällt und auf einer Schuhspitze zur Ruhe kommt. Dort bleibt er liegen.
Liegenbleiben. Geht man einundzwanzig Buchstaben weiter, wird daraus Liebenbleiben. Dieses Wort umhüllt mich sanft, als sei es selbst eine kleine, zärtliche Geste des Bleibens. Vielleicht könnte aus manchem Liegenbleiben ein Liebenbleiben werden, wenn man sich nur ein Stück weiter wagt.
Den Gedanken werfe ich in hohem Bogen zum Fenster hinaus. Dort bleibt er.
Vor Kurzem ging ich eine Strasse entlang. Ein geparktes Auto, darin eine Frau, rauchend. Ich hätte mich gern neben sie gesetzt, wir hätten geschwiegen, nebeneinander, den Blick auf die Strasse gerichtet. Keine Fragen, kein Gespräch. Nur das Teilen eines Moments.
Seit zehn Sätzen starre ich auf die Staubschicht meiner Nachttischlampe. Das weisse Blatt vor mir scheint mich herauszufordern. Ich fürchte es. Als könnte es mich angreifen, sobald ich ihm noch ein weiteres Wort hinzufüge. Also steige ich unter die Dusche.
Das Wasser legt sich über meine Haut wie ein Film ohne Abspann. Ich versuche, die Strudel im Abfluss aufzuhalten, doch da ist nichts, was ich festhalten könnte. Meine Hände tragen die Spuren der Stadt, meine Haut ist aufgeraut vom Sturm.
Der Text „Sturm der Gedanken“ war die erste Idee zu diesen Wortmalereien. Doch ich war nicht zufrieden damit. Nach einer kurzen Schreibblockade entstand schliesslich „Die Worte, die der Wind nahm“, ein kurzer Text, mit dem ich nun zufrieden bin.
No. 17 Alles ist eins
Alles ist eins
Einmal, am Rande des Hains,
stehn wir einsam beisammen
und sind festlich, wie Flammen
fühlen: Alles ist Eins.
Halten uns fest umfasst;
werden im lauschenden Lande
durch die weichen Gewande
wachsen wie Ast an Ast.
Wiegt ein erwachender Hauch
die Dolden des Oleanders:
sieh, wir sind nicht mehr anders,
und wir wiegen uns auch.
Meine Seele spürt,
dass wir am Tore tasten.
Und sie fragt dich im Rasten:
Hast Du mich hergeführt?
Und du lächelst darauf
so herrlich und heiter
und: bald wandern wir weiter:
Tore gehn auf..
Und wir sind nichtmehr zag,
unser Weg wird kein Weh sein,
wird eine lange Allee sein
aus dem vergangenen Tag.
Alles ist ein Moment, der bleibt
Es gibt solche Wochen, in denen kein Stein auf dem anderen bleibt. Dinge, die lange in der Schwebe waren, brechen zusammen. Dissonanzen eskalieren, und Unkenntnis weist den falschen Weg.
Die vergangenen Tage fühlten sich an wie die schlimmsten Träume: Ich irrte durch enge, verbauten Gänge, stand vor unüberwindbaren Hindernissen und obwohl ich in meinen Träumen oft mühelos Wände erklimmen oder fliegen kann, fehlte dieses Gefühl der Freiheit diesmal. Orientierungslos stolperte ich durch Dunkelheit, ohne Ziel, das Tageslicht schmerzlich vermissend, und ohne Menschen, die mir helfen oder wenigstens Auskunft geben könnten.
Bei Tag waren es natürlich keine tatsächlichen Gänge, sondern das graue Wetter, das ein Gefühl der Enge hervorrief. Dazu kamen die verschiedensten Hindernisse, die es zu überwinden galt. Ich gehöre zu denjenigen, die kaum arbeiten können, wenn hinter ihnen ein Berg unerledigter Probleme lauert. Die Migräne war schliesslich das lauteste Alarmzeichen, doch wo ein Alarm ertönt, ist die Lösung oft noch weit entfernt.
Und doch, wie so oft, reicht es, ein Problem entschlossen anzupacken, und plötzlich lösen sich auch die anderen Schwierigkeiten. Es ist ein Domino-Effekt: Fällt eines, fallen sie alle. Jetzt bin ich erschöpft und unausgeschlafen, aber dennoch froh.
Trotz der Panik fand ich die Zeit, „Gesang der Fledermäuse“ von Olga Tokarczuk zu lesen. Ein beklemmendes Buch, gruselig auf seine Weise, aber unglaublich faszinierend und bewegend.
Die Kunst des Aufschiebens
Ob Texte sich nicht von allein schreiben? Manchmal scheint das tatsächlich der Hintergedanke zu sein, die stille Hoffnung. Dass sich die Worte in meinem Kopf ganz automatisch zu einem Gefüge formen und sich unsichtbar auf das Papier ergiessen, von selbst, mühelos. Warum sonst finde ich immer wieder andere Beschäftigungen, weiche aus, schiebe das Wichtige vor mir her wie eine Kehrschaufel einen Berg Schmutz. Doch anstatt sich in Gold zu verwandeln, wächst und wächst dieser Berg aus Unordnung und bleibt, was er ist.
Gedanken, die ziellos schweifen, führen nicht zum Ziel. Stattdessen umkreisen sie es, immer wieder daran vorbei, wie ein Suchscheinwerfer, wie der Streifen eines Leuchtturms, rastlos und doch ohne wahre Richtung. Und während die Zeit unaufhaltsam verstreicht, sitze ich da, bis ich ganz durchsichtig werde, kaum mehr als ein blasses Flimmern. Leeres Gerede füllt die Lücken; ich lese Halbsätze im Halbschlaf und klicke mich durch ganze Universen, ohne dass etwas davon in mir haften bleibt.
Wann habe ich zuletzt laut gelacht? Wann laut gedacht: Es gibt nichts Wertvolleres als ein bisschen Freizeit? Frei, in Augenblicken, in Zelten, in grossen Zeiten, mitzumischen, aufzutischen, aufzuheitern. Ein Stück Entspannung zwischen all dem Ziehen und Zerren. Eine Lücke im Getümmel, eine Brise auf der schweissnassen Stirn. Aber wer arbeitet heute noch so, dass ihm der Schweiss von den Beinen rinnt? Das macht man doch, eben, nur noch in seiner Freizeit. Schweiss erzeugen.
Leise, doch bedeutungsvolle Schritte. Etwas in mir schält sich heraus, wie eine reife Frucht, wie ein verpupptes Tier, das seine Hülle sprengt und fällt. Ein Klumpen Haut bleibt zurück, das, was übrig bleibt. Das bin ich.
„Gesang der Fledermäuse“ ist weit mehr als ein Kriminalroman: Olga Tokarczuk entwirft hier ein poetisches, subversives und zugleich verstörendes Panorama der menschlichen Verlorenheit.
Im Zentrum steht Janina Duszejko, eine eigenwillige ältere Frau, passionierte Tierliebhaberin und Hobbyastrologin, die sich am Rande eines abgelegenen polnischen Dorfes zunehmend in die Abgründe ihrer Umgebung verstrickt. Die Serie rätselhafter Todesfälle unter den Dorfmännern ist dabei weniger ein klassisches Krimi-Motiv als ein Anlass für grössere Fragen.
Tokarczuk nutzt Janinas Stimme, um eine tiefgreifende Anklage gegen patriarchale, religiöse und gesellschaftliche Systeme zu formulieren. Systeme, die Natur, Empathie und individuelle Freiheit gleichermassen unterdrücken.
In einer Sprache, die zwischen zarter Melancholie und scharfem Sarkasmus changiert, stellt der Roman die drängende Frage: Was bedeutet Gerechtigkeit und wer nimmt sich das Recht, sie herzustellen?
„Gesang der Fledermäuse“ ist zugleich ein ökologisches Manifest, eine Parabel über die Zerbrechlichkeit des Lebens und eine kritische Meditation über die moralische Blindheit unserer Zeit.
Tokarczuks Werk öffnet Räume für Zweifel, Widerspruch und Staunen. Und hallt lange nach dem letzten Satz im Leser nach.
No. 15 Tränenkrüglein
Tränenkrüglein
Andere fassen den Wein, andere fassen die Öle
in dem gehöhlten Gewölb, das ihre Wandung umschrieb.
Ich, als ein kleineres Mass und als schlankestes, höhle
mich einem andern Bedarf, stürzenden Tränen zulieb.
Wein wird reicher, und Öl klärt sich noch weiter im Kruge.
Was mit den Tränen geschieht? – Sie machten mich schwer,
machten mich blinder und machten mich schillern am Buge,
machten mich brüchig zuletzt und machten mich leer.
Schweigen und Sehnen
Schweigen, um des Friedens willen. In der Komfortzone verharren, um sich selbst und andere nicht zu belasten – darin sind wir geübt. Was uns jedoch schwerfällt: mit den Konsequenzen zu leben. Innerlich rennen wir, bis uns die Luft ausgeht, bis der Atem stockt und die Ausreden mit ihm versiegen. Bis die Füsse wund sind und das brennende Salz unserer Tränen auf der Haut jeden anderen Schmerz überdeckt.
Die Angst ist nicht rational, aber sie ist allgegenwärtig. Sich einlassen bedeutet loslassen – und gerade deshalb halten wir lieber fest. In meinem Kopf kreisen Bilder, Melodien und Texte, Befürchtungen und auch du. Wer Berge erklimmt, weiss stets um die Gefahr des Abgrunds. Doch während ich auf Normalnull bleibe, wünsche ich mir, ein Seiltänzer zu sein.
"Der folgende Text und das dazugehörige Bild sind einige Tage später entstanden.”
Ich hasse es, wie gleichgültig den Menschen alles ist, wie verdammt gleichgültig.
Sie sehen die Schönheit in den Dingen nicht. Sie sehen nicht, wer ich bin, was ich bin; sie wollen es nicht sehen. Es interessiert sie einfach nicht.Vor den Kopf gestossen, das bin und wurde ich; wieder und wieder. Die Blicke, die an mir vorbeigleiten, sind wie Schläge ins Gesicht; jedes Lachen, das nicht mir gilt, sticht beherzt zu; Nadel in mein Herz, mein Herz als Nadelkissen. Ja, das Bild gefällt mir, und – fingernaegel auf meiner haut; weisse kratzspuren, die bald verblassen werden – ich merke: Der Blick richtet sich nach innen, wenn die Welt dort draussen zusammenbricht. Nach innen, ins Dunkle; da, wo keine Stimmen verletzen können und keine Geste die Tränen in mir hoch kochen lässt. Nur ich und leere Worte und der Wunsch, an nichts denken zu können.
No. 12.1 Der Lesende
Der Lesende
Ich las schon lang. Seit dieser Nachmittag,
mit Regen rauschend, an den Fenstern lag.
Vom Winde draussen hörte ich nichts mehr:
mein Buch war schwer.
Ich sah ihm in die Blätter wie in Mienen,
die dunkel werden von Nachdenklichkeit,
und um mein Lesen staute sich die Zeit. -
Auf einmal sind die Seiten überschienen,
und statt der bangen Wortverworrenheit
steht: Abend, Abend... überall auf ihnen.
Ich schau noch nicht hinaus, und doch zerreissen
die langen Zeilen, und die Worte rollen
von ihren Fäden fort, wohin sie wollen...
Da weiss ich es: über den übervollen
glänzenden Gärten sind die Himmel weit;
die Sonne hat noch einmal kommen sollen. -
Und jetzt wird Sommernacht, soweit man sieht:
zu wenig Gruppen stellt sich das Verstreute,
dunkel, auf langen Wegen, gehn die Leute,
und seltsam weit, als ob es mehr bedeute,
hört man das Wenige, das noch geschieht.
Und wenn ich jetzt vom Buch die Augen hebe,
wird nichts befremdlich sein und alles gross.
Dort draussen ist, was ich hier drinnen lebe,
und hier und dort ist alles grenzenlos;
nur dass ich mich noch mehr damit verwebe,
wenn meine Blicke an die Dinge passen
und an die ernste Einfachheit der Massen, -
da wächst die Erde über sich hinaus.
Den ganzen Himmel scheint sie zu umfassen:
der erste Stern ist wie das letzte Haus.
Die verlorene Besinnlichkeit
Man verpasst es, unbemerkt. Diese Besinnlichkeit, das Runterkommen und mal nicht Rumwuseln, das Einkuscheln in eine Decke mit einer Kanne Tee und in einem Buch lesen, das In-die-Luft-gucken und einfach glücklich sein. Aufwachen und feststellen, dass die Zeit viel zu schnell vergeht zwischen unausgeschlafen Arbeit und totmüde ins Bett fallen, aufwachen und trotzdem weiterschlafen innendrin, nur zwischendurch mal die Augen aufmachen, wenn dir das Herz aufgeht für ein paar Stunden oder ein paar Minuten, plop, wie eine Flasche Wein und dann schnell daraus trinken so viel nur geht, bevor es sich leise mit einem Ziehen in der Brust wieder schliesst.
Am Rande der Nacht I
Ein neues Bild
Anfangs las ich widerwillig, doch bald konnte ich nicht mehr aufhören, wie bei einem Buch, das man erst liest, weil man es muss, und das einen plötzlich packt.
Ich hatte ein neues Bild gemalt. Es war das erste Werk, das ich unten rechts signierte, und ich stellte es im Shop ein. Nach drei Tagen wurde es von einer Käuferin erworben. Ich machte noch ein Foto davon, schlug es vorsichtig in Papier ein und brachte es zur Post.
Vier Wochen später fand ich in meinem Postfach eine vorsichtige Nachricht, die sich las wie ein leises Anklopfen an einer Tür, von der man nicht weiss, was sich dahinter verbirgt. Sie fragte, ob sie mir schreiben dürfe. Ich war unschlüssig, was ich antworten sollte, und schrieb schliesslich: Ja. Als ich am Abend nach Hause kam, fand ich eine neue Nachricht von ihr vor.
„Darf ich dir erzählen, was mir durch den Kopf geht, wenn ich das Bild sehe? Warum ich es unbedingt haben musste?“
Ich wollte ihr den Spass nicht verderben, tippte ein kurzes Ja und klickte die Nachricht weg. Ich war gerade ausreichend beschäftigt und hatte nicht die Musse, mich tiefer damit zu befassen. Wochenlang hörte ich nichts mehr von ihr. Dann kam eine neue Nachricht. Diesmal war sie mehrere Seiten lang. Sie schrieb von dem Bild, von erfüllten Wünschen, von Ideen, die sie abgehakt hatte, und von durchkreuzten Plänen. Von Hunger und Sehnsüchten. Von Farben, Hass, Wut, Trauer und vielen Gefühlen. Mit erbarmungsloser Offenheit.
Anfangs las ich widerwillig, doch bald konnte ich nicht mehr aufhören, wie bei einem Buch, das man erst liest, weil man es muss, und das einen plötzlich packt. Die Nachricht liess mich fassungslos zurück. Aber ich konnte ihr nicht antworten. Drei Wochen lang war ich danach damit beschäftigt, alles neu zu ordnen. Dann antwortete ich.
Die Monate vergingen, und bald schrieben wir uns schon ein Jahr lang. Unsere Leben waren wie ein Riesenrad, das sich immer weiter drehte: Wir stiegen ein und aus, doch kurz darauf stiegen wir immer wieder ein, auf eine neue Fahrt mit der Hoffnung auf eine neue Aussicht. Oft fehlte uns das Geld für Fahrkarten, also fuhren wir schwarz und zitterten nervös, dass niemand es bemerken würde. Wir standen an den Fenstern der Gondeln, sahen nach draussen und blickten lange auf den Horizont. Manchmal erzählten wir einander von der Aussicht, die doch immer die gleiche war und sich doch mit den Tages- und Jahreszeiten veränderte.
Das Jahr ging zu Ende und der Frühling nahte. Sie hatte Urlaub. Ich auch.
Die Strassenbeleuchtung erlosch gerade, als ich mich früh morgens in den Zug setzte. Allein drei Nachtigallen in einem Baum machen noch keinen Frühling, doch eine Ahnung vom Ende des Winters hing in der Morgendämmerung zwischen zwei Strassenzügen. Nach zwei Stunden stand ich vor einem hässlichen, ockergelben Hochhaus, das nur die Morgensonne in ein schönes Licht tauchen konnte. Ich stieg zwei Stufen zum Eingang hoch und läutete an der Haustür. Ein Summen ertönte, ich drückte und ging langsam die Stufen hinauf. Sie wohnte im zweiten Stock.
Sie stand schon in der Tür und war hübscher als auf den Handyfotos. Ich beobachtete ihre Mimik. Für einen winzigen Augenblick erkannte ich eine Irritation in ihrem Blick, sie sah mich noch einmal an. Eine kleine Enttäuschung lag zwischen uns auf der Fussmatte. Wie einen alten Schuh trat sie sie mit einer Fussbewegung zur Seite, bat mich herein, hängte meine Jacke an die Garderobe, goss Kaffee in zwei Becher und setzte sich zu mir an den Küchentisch. Und dann redeten wir. Redeten, redeten, redeten.
Diese Vertrautheit in der Fremde. Diese Verwirrung, jemanden zu sehen, eine Unbekannte, deren Innerstes man so gut kennt. Ich versuchte, alles, was ich aus ihren Nachrichten und den Telefonaten mit ihr wusste, zusammen mit ihrer Mimik, ihren Gesten, ihren Bewegungen, ihrem Körper, zu einem Bild zusammenzufügen. Ich hatte ein Kratzen im Hals, wenn ich schluckte.
Heute schreiben wir uns immer noch regelmässig. Sie ist verheiratet und hat ein Kind und erzählt mir von Zeit zu Zeit ihre Lebenserlebnisse.
No. 10 Einsamkeit
Einsamkeit
Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.
Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig von einander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:
dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen...
Die stumme Begleitung
Ich bin traurig. Jeder weiss das, und diejenigen, die es nicht wissen, kennen mich auch sonst nicht. Diese Menschen zählen nicht. Aber selbst die, die es wissen, haben nichts geändert. Haben sie irgendetwas unternommen? Nein. Ich bin nicht die Einzige, die sich eine andere Antwort wünscht... Ich habe nur noch einen Begleiter. Es ist, als sässe jemand neben mir und hielte ständig meine Hand. Ja, es ist kalt, ja, der Griff ist ein bisschen zu fest, und ja, ich kann nicht immer dorthin gehen, wo ich hin möchte. Aber wenigstens ist da jemand. Wenigstens hält jemand meine Hand.
Diese Begleitung ist die Traurigkeit. Auch wenn sie mir meinen Mut, mein Lächeln und den leichten, warmen Atem nimmt. Das alles habe ich sowieso schon verlernt, nicht wahr? In diesem Leben habe ich keine Verwendung für strahlende Augen und glockenhelles Lachen, für Erwartungen und naive Hoffnungen. Ich habe nur die Traurigkeit. Sie hat für mich einen Wert. Ich kann mich an sie anlehnen, sie nimmt mich in den Arm und bleibt bei mir, wenn sonst alle gegangen sind.
Ist es mir egal, dass sie mich umbringen wird? Die Nacktheit und Verwundbarkeit ohne ihre Hand in meiner Nähe würden mich ebenfalls töten. Also, was soll die Frage? Hast du nicht zugehört? Die Traurigkeit ist alles, was ich noch habe. Ich kann nicht mehr ohne sie, ich weiss nicht, wie es anders geht. Ich will es auch gar nicht wissen. Nicht mehr. Ich will mich endlich fallen lassen dürfen, ich will endlich loslassen und jeden Sonnenstrahl hinter den Wolken vergessen dürfen. Ja, vielleicht sind da welche, aber die Wolken sind auch da – wie soll ich sie leugnen? Ich kann das nicht mehr. Also bitte, lasst uns allein. Ab hier nur noch wir beide, ohne den Rest, der uns eh nie wollte.
Das Bild entstand an einem Mittag und soll die Nacktheit und Verlassenheit der Einsamkeit zeigen. An diesem regnerischen und grauen Tag ohne Sonnenschein wurde die Trostlosigkeit und das Gefühl des Alleinseins zusätzlich eindrucksvoll unterstrichen.
Der Begleittext entstand nach einem tiefgehenden und aufrichtigen Gespräch mit einer Frau, die ihre innersten Gefühle offenbart hat. In einem Moment der Verwundbarkeit hat sie ihr Herz ausgeschüttet und die überwältigende Traurigkeit geteilt, die sie begleitet. Der Text soll uns daran erinnern, wie wichtig es ist, zuzuhören und für diejenigen da zu sein, die mit ihren Emotionen kämpfen.
Diese Zeilen verdeutlichen, wie Traurigkeit ein ständiger Begleiter sein kann, der sowohl Trost als auch Schmerz bringt. Die Frau beschreibt eindrucksvoll, wie sie sich an diese Traurigkeit klammert, da sie das Einzige ist, was ihr geblieben ist, und wie diese Traurigkeit ihr gleichzeitig den Mut und die Freude nimmt.
Dieses bewegende Zeugnis der menschlichen Erfahrung erinnert uns daran, wie wertvoll Empathie und Verständnis sind. Es lädt uns ein, einen Moment innezuhalten und darüber nachzudenken, wie wir anderen helfen können, wenn sie es am meisten brauchen.
Wenn du oder jemand, den du kennst, Hilfe benötigt, vergiss nicht, dass es Hilfsstellen gibt. Die Dargebotene Hand hat ein offenes Ohr auch im Notfall:
Telefon: 143
Internet: www.143.ch
Die Berater der Dargebotenen Hand sind erfahren darin, auch Menschen mit drängenden Suizidgedanken weiterzuhelfen.
Dieses Bild habe ich wenige Tage nach unserem Gespräch gezeichnet. Mit der Erlaubnis von U zeige ich es hier und möchte Dir von ganzem Herzen für das Vertrauen danken, das Du mir entgegengebracht hast und weiterhin entgegenbringst.
Merci viu, viu mau.