No. 15 Tränenkrüglein

Tränenkrüglein

Andere fassen den Wein, andere fassen die Öle
in dem gehöhlten Gewölb, das ihre Wandung umschrieb.
Ich, als ein kleineres Mass und als schlankestes, höhle
mich einem andern Bedarf, stürzenden Tränen zulieb.

Wein wird reicher, und Öl klärt sich noch weiter im Kruge.
Was mit den Tränen geschieht? – Sie machten mich schwer,
machten mich blinder und machten mich schillern am Buge,
machten mich brüchig zuletzt und machten mich leer.


Schweigen und Sehnen

Schweigen, um des Friedens willen. In der Komfortzone verharren, um sich selbst und andere nicht zu belasten – darin sind wir geübt. Was uns jedoch schwerfällt: mit den Konsequenzen zu leben. Innerlich rennen wir, bis uns die Luft ausgeht, bis der Atem stockt und die Ausreden mit ihm versiegen. Bis die Füsse wund sind und das brennende Salz unserer Tränen auf der Haut jeden anderen Schmerz überdeckt.

Die Angst ist nicht rational, aber sie ist allgegenwärtig. Sich einlassen bedeutet loslassen – und gerade deshalb halten wir lieber fest. In meinem Kopf kreisen Bilder, Melodien und Texte, Befürchtungen und auch du. Wer Berge erklimmt, weiss stets um die Gefahr des Abgrunds. Doch während ich auf Normalnull bleibe, wünsche ich mir, ein Seiltänzer zu sein.



"Der folgende Text und das dazugehörige Bild sind einige Tage später entstanden.”

Ich hasse es, wie gleichgültig den Menschen alles ist, wie verdammt gleichgültig.

Sie sehen die Schönheit in den Dingen nicht. Sie sehen nicht, wer ich bin, was ich bin; sie wollen es nicht sehen. Es interessiert sie einfach nicht.Vor den Kopf gestossen, das bin und wurde ich; wieder und wieder. Die Blicke, die an mir vorbeigleiten, sind wie Schläge ins Gesicht; jedes Lachen, das nicht mir gilt, sticht beherzt zu; Nadel in mein Herz, mein Herz als Nadelkissen. Ja, das Bild gefällt mir, und – fingernaegel auf meiner haut; weisse kratzspuren, die bald verblassen werden – ich merke: Der Blick richtet sich nach innen, wenn die Welt dort draussen zusammenbricht. Nach innen, ins Dunkle; da, wo keine Stimmen verletzen können und keine Geste die  Tränen in mir hoch kochen lässt. Nur ich und leere Worte und der Wunsch, an nichts denken zu können.

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No. 12.1 Der Lesende

Der Lesende

Ich las schon lang. Seit dieser Nachmittag,
mit Regen rauschend, an den Fenstern lag.
Vom Winde draussen hörte ich nichts mehr:
mein Buch war schwer.
Ich sah ihm in die Blätter wie in Mienen,
die dunkel werden von Nachdenklichkeit,
und um mein Lesen staute sich die Zeit. -
Auf einmal sind die Seiten überschienen,
und statt der bangen Wortverworrenheit
steht: Abend, Abend... überall auf ihnen.
Ich schau noch nicht hinaus, und doch zerreissen
die langen Zeilen, und die Worte rollen
von ihren Fäden fort, wohin sie wollen...
Da weiss ich es: über den übervollen
glänzenden Gärten sind die Himmel weit;
die Sonne hat noch einmal kommen sollen. -
Und jetzt wird Sommernacht, soweit man sieht:
zu wenig Gruppen stellt sich das Verstreute,
dunkel, auf langen Wegen, gehn die Leute,
und seltsam weit, als ob es mehr bedeute,
hört man das Wenige, das noch geschieht.

Und wenn ich jetzt vom Buch die Augen hebe,
wird nichts befremdlich sein und alles gross.
Dort draussen ist, was ich hier drinnen lebe,
und hier und dort ist alles grenzenlos;
nur dass ich mich noch mehr damit verwebe,
wenn meine Blicke an die Dinge passen
und an die ernste Einfachheit der Massen, -
da wächst die Erde über sich hinaus.
Den ganzen Himmel scheint sie zu umfassen:
der erste Stern ist wie das letzte Haus.

Die verlorene Besinnlichkeit

Man verpasst es, unbemerkt. Diese Besinnlichkeit, das Runterkommen und mal nicht Rumwuseln, das Einkuscheln in eine Decke mit einer Kanne Tee und in einem Buch lesen, das In-die-Luft-gucken und einfach glücklich sein. Aufwachen und feststellen, dass die Zeit viel zu schnell vergeht zwischen unausgeschlafen Arbeit und totmüde ins Bett fallen, aufwachen und trotzdem weiterschlafen innendrin, nur zwischendurch mal die Augen aufmachen, wenn dir das Herz aufgeht für ein paar Stunden oder ein paar Minuten, plop, wie eine Flasche Wein und dann schnell daraus trinken so viel nur geht, bevor es sich leise mit einem Ziehen in der Brust wieder schliesst.

Am Rande der Nacht I

Ein neues Bild

Anfangs las ich widerwillig, doch bald konnte ich nicht mehr aufhören, wie bei einem Buch, das man erst liest, weil man es muss, und das einen plötzlich packt.

Ich hatte ein neues Bild gemalt. Es war das erste Werk, das ich unten rechts signierte, und ich stellte es im Shop ein. Nach drei Tagen wurde es von einer Käuferin erworben. Ich machte noch ein Foto davon, schlug es vorsichtig in Papier ein und brachte es zur Post.

Vier Wochen später fand ich in meinem Postfach eine vorsichtige Nachricht, die sich las wie ein leises Anklopfen an einer Tür, von der man nicht weiss, was sich dahinter verbirgt. Sie fragte, ob sie mir schreiben dürfe. Ich war unschlüssig, was ich antworten sollte, und schrieb schliesslich: Ja. Als ich am Abend nach Hause kam, fand ich eine neue Nachricht von ihr vor.

„Darf ich dir erzählen, was mir durch den Kopf geht, wenn ich das Bild sehe? Warum ich es unbedingt haben musste?“

Ich wollte ihr den Spass nicht verderben, tippte ein kurzes Ja und klickte die Nachricht weg. Ich war gerade ausreichend beschäftigt und hatte nicht die Musse, mich tiefer damit zu befassen. Wochenlang hörte ich nichts mehr von ihr. Dann kam eine neue Nachricht. Diesmal war sie mehrere Seiten lang. Sie schrieb von dem Bild, von erfüllten Wünschen, von Ideen, die sie abgehakt hatte, und von durchkreuzten Plänen. Von Hunger und Sehnsüchten. Von Farben, Hass, Wut, Trauer und vielen Gefühlen. Mit erbarmungsloser Offenheit.

Anfangs las ich widerwillig, doch bald konnte ich nicht mehr aufhören, wie bei einem Buch, das man erst liest, weil man es muss, und das einen plötzlich packt. Die Nachricht liess mich fassungslos zurück. Aber ich konnte ihr nicht antworten. Drei Wochen lang war ich danach damit beschäftigt, alles neu zu ordnen. Dann antwortete ich.

Die Monate vergingen, und bald schrieben wir uns schon ein Jahr lang. Unsere Leben waren wie ein Riesenrad, das sich immer weiter drehte: Wir stiegen ein und aus, doch kurz darauf stiegen wir immer wieder ein, auf eine neue Fahrt mit der Hoffnung auf eine neue Aussicht. Oft fehlte uns das Geld für Fahrkarten, also fuhren wir schwarz und zitterten nervös, dass niemand es bemerken würde. Wir standen an den Fenstern der Gondeln, sahen nach draussen und blickten lange auf den Horizont. Manchmal erzählten wir einander von der Aussicht, die doch immer die gleiche war und sich doch mit den Tages- und Jahreszeiten veränderte.

Das Jahr ging zu Ende und der Frühling nahte. Sie hatte Urlaub. Ich auch.

Die Strassenbeleuchtung erlosch gerade, als ich mich früh morgens in den Zug setzte. Allein drei Nachtigallen in einem Baum machen noch keinen Frühling, doch eine Ahnung vom Ende des Winters hing in der Morgendämmerung zwischen zwei Strassenzügen. Nach zwei Stunden stand ich vor einem hässlichen, ockergelben Hochhaus, das nur die Morgensonne in ein schönes Licht tauchen konnte. Ich stieg zwei Stufen zum Eingang hoch und läutete an der Haustür. Ein Summen ertönte, ich drückte und ging langsam die Stufen hinauf. Sie wohnte im zweiten Stock.

Sie stand schon in der Tür und war hübscher als auf den Handyfotos. Ich beobachtete ihre Mimik. Für einen winzigen Augenblick erkannte ich eine Irritation in ihrem Blick, sie sah mich noch einmal an. Eine kleine Enttäuschung lag zwischen uns auf der Fussmatte. Wie einen alten Schuh trat sie sie mit einer Fussbewegung zur Seite, bat mich herein, hängte meine Jacke an die Garderobe, goss Kaffee in zwei Becher und setzte sich zu mir an den Küchentisch. Und dann redeten wir. Redeten, redeten, redeten.

Diese Vertrautheit in der Fremde. Diese Verwirrung, jemanden zu sehen, eine Unbekannte, deren Innerstes man so gut kennt. Ich versuchte, alles, was ich aus ihren Nachrichten und den Telefonaten mit ihr wusste, zusammen mit ihrer Mimik, ihren Gesten, ihren Bewegungen, ihrem Körper, zu einem Bild zusammenzufügen. Ich hatte ein Kratzen im Hals, wenn ich schluckte.

Heute schreiben wir uns immer noch regelmässig. Sie ist verheiratet und hat ein Kind und erzählt mir von Zeit zu Zeit ihre Lebenserlebnisse.

 

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No. 10 Einsamkeit

Einsamkeit

Die Einsamkeit ist wie ein Regen.
Sie steigt vom Meer den Abenden entgegen;
von Ebenen, die fern sind und entlegen,
geht sie zum Himmel, der sie immer hat.
Und erst vom Himmel fällt sie auf die Stadt.

Regnet hernieder in den Zwitterstunden,
wenn sich nach Morgen wenden alle Gassen
und wenn die Leiber, welche nichts gefunden,
enttäuscht und traurig von einander lassen;
und wenn die Menschen, die einander hassen,
in einem Bett zusammen schlafen müssen:

dann geht die Einsamkeit mit den Flüssen...

Die stumme Begleitung

Ich bin traurig. Jeder weiss das, und diejenigen, die es nicht wissen, kennen mich auch sonst nicht. Diese Menschen zählen nicht. Aber selbst die, die es wissen, haben nichts geändert. Haben sie irgendetwas unternommen? Nein. Ich bin nicht die Einzige, die sich eine andere Antwort wünscht... Ich habe nur noch einen Begleiter. Es ist, als sässe jemand neben mir und hielte ständig meine Hand. Ja, es ist kalt, ja, der Griff ist ein bisschen zu fest, und ja, ich kann nicht immer dorthin gehen, wo ich hin möchte. Aber wenigstens ist da jemand. Wenigstens hält jemand meine Hand.

Diese Begleitung ist die Traurigkeit. Auch wenn sie mir meinen Mut, mein Lächeln und den leichten, warmen Atem nimmt. Das alles habe ich sowieso schon verlernt, nicht wahr? In diesem Leben habe ich keine Verwendung für strahlende Augen und glockenhelles Lachen, für Erwartungen und naive Hoffnungen. Ich habe nur die Traurigkeit. Sie hat für mich einen Wert. Ich kann mich an sie anlehnen, sie nimmt mich in den Arm und bleibt bei mir, wenn sonst alle gegangen sind.

Ist es mir egal, dass sie mich umbringen wird? Die Nacktheit und Verwundbarkeit ohne ihre Hand in meiner Nähe würden mich ebenfalls töten. Also, was soll die Frage? Hast du nicht zugehört? Die Traurigkeit ist alles, was ich noch habe. Ich kann nicht mehr ohne sie, ich weiss nicht, wie es anders geht. Ich will es auch gar nicht wissen. Nicht mehr. Ich will mich endlich fallen lassen dürfen, ich will endlich loslassen und jeden Sonnenstrahl hinter den Wolken vergessen dürfen. Ja, vielleicht sind da welche, aber die Wolken sind auch da – wie soll ich sie leugnen? Ich kann das nicht mehr. Also bitte, lasst uns allein. Ab hier nur noch wir beide, ohne den Rest, der uns eh nie wollte.

Das Bild entstand an einem Mittag und soll die Nacktheit und Verlassenheit der Einsamkeit zeigen. An diesem regnerischen und grauen Tag ohne Sonnenschein wurde die Trostlosigkeit und das Gefühl des Alleinseins zusätzlich eindrucksvoll unterstrichen.

Der Begleittext entstand nach einem tiefgehenden und aufrichtigen Gespräch mit einer Frau, die ihre innersten Gefühle offenbart hat. In einem Moment der Verwundbarkeit hat sie ihr Herz ausgeschüttet und die überwältigende Traurigkeit geteilt, die sie begleitet. Der Text soll uns daran erinnern, wie wichtig es ist, zuzuhören und für diejenigen da zu sein, die mit ihren Emotionen kämpfen.

Diese Zeilen verdeutlichen, wie Traurigkeit ein ständiger Begleiter sein kann, der sowohl Trost als auch Schmerz bringt. Die Frau beschreibt eindrucksvoll, wie sie sich an diese Traurigkeit klammert, da sie das Einzige ist, was ihr geblieben ist, und wie diese Traurigkeit ihr gleichzeitig den Mut und die Freude nimmt.

Dieses bewegende Zeugnis der menschlichen Erfahrung erinnert uns daran, wie wertvoll Empathie und Verständnis sind. Es lädt uns ein, einen Moment innezuhalten und darüber nachzudenken, wie wir anderen helfen können, wenn sie es am meisten brauchen.

Wenn du oder jemand, den du kennst, Hilfe benötigt, vergiss nicht, dass es Hilfsstellen gibt. Die Dargebotene Hand hat ein offenes Ohr auch im Notfall:

  • Telefon: 143

  • Internet: www.143.ch

Die Berater der Dargebotenen Hand sind erfahren darin, auch Menschen mit drängenden Suizidgedanken weiterzuhelfen.

Dieses Bild habe ich wenige Tage nach unserem Gespräch gezeichnet. Mit der Erlaubnis von U zeige ich es hier und möchte Dir von ganzem Herzen für das Vertrauen danken, das Du mir entgegengebracht hast und weiterhin entgegenbringst.

Merci viu, viu mau.

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