No. 16 Begegnung

Begegnung

Zu solchen Stunden gehn wir also hin
und gehen jahrelang zu solchen Stunden:
auf einmal ist ein Horchender gefunden,
und alle Worte haben Sinn.

Alle Gebärden sind auf einmal gross
und ausgewachsen wie ein Flügelschlagen,
sie scheinen uns einander zuzutragen,
und wir sind noch vom Fluge atemlos, –
wenn schon das Schweigen kommt, auf das wir warten,
kommt wie die Nacht, von grossen Sternen breit:
zwei Menschen wachsen wie im selben Garten,
und dieser Garten ist nicht in der Zeit.

Das erste Wort wird beide wieder trennen,
ein jeder ist, mehr als vorher, allein;
sie werden lächeln und sich kaum erkennen,
aber sie werden beide grösser sein.


Das Jetzt festhalten und loslassen

Im Hier und Jetzt zu leben hat für mich eine tiefe Bedeutung – und doch stellt es mich immer wieder vor Herausforderungen. Wir erzählen die Geschichten der Vergangenheit und träumen von den Möglichkeiten der Zukunft. Dabei wird das Hier und Jetzt unwiderruflich zum Teil des Morgens, und das Morgen schliesslich zum Teil des Gestern.

Momente der Ruhe und des Glücks finde ich besonders dann, wenn ich allein bin. Diese Augenblicke ermöglichen es mir, innezuhalten, Dankbarkeit zu empfinden und mich ganz in Zufriedenheit zu verlieren. Doch auch in Gesellschaft gelingt es mir, den Moment zu geniessen – selbst bei spontanen Begegnungen. In solchen Situationen schalte ich bewusst meinen Verstand aus, öffne mein Herz und nehme die positiven Energien um mich herum auf – oft so intensiv, dass mir vor Freude eine Träne über die Wange läuft.

Aus solchen Momenten entstehen nicht selten Bilder für meine Kunstprojekte – Porträts, die die Tiefe und Authentizität der Begegnung einfangen. Doch manchmal lasse ich die Kamera bewusst beiseite, um den Moment in seiner ganzen Unmittelbarkeit zu erleben. Das kann ich zwar später bereuen, wenn keine bleibenden Erinnerungen entstanden sind, aber der reine Augenblick fühlt sich oft so wertvoll an, dass ich diesen Kompromiss eingehe.

Bei besonderen Anlässen wie Geburtstagsfeiern oder einem Sommertag am Meer halte ich die Momente dennoch gerne für meine Familie und Freunde fest. Es sind meist spontane, ungezwungene Schnappschüsse. Gelegentlich bin auch ich selbst auf einem Bild zu sehen – meist in einem inszenierten Rahmen. Doch lieber ein gestelltes Foto, als später durch die Bilder zu blättern und das Gefühl zu haben, nie wirklich dabei gewesen zu sein.

“Während des Einkaufs sprach ich sie spontan an und fragte, ob sie Interesse hätte, bei meinem Projekt "Wortmalereien" mitzuwirken. Zu meiner Freude sagte sie zu, und wir entschieden uns, uns bei einem Kaffee näher kennenzulernen. Am Nachmittag trafen wir uns schliesslich bei ihr zu Hause, wo diese Bilder entstanden sind.”

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No. 15 Tränenkrüglein

Tränenkrüglein

Andere fassen den Wein, andere fassen die Öle
in dem gehöhlten Gewölb, das ihre Wandung umschrieb.
Ich, als ein kleineres Mass und als schlankestes, höhle
mich einem andern Bedarf, stürzenden Tränen zulieb.

Wein wird reicher, und Öl klärt sich noch weiter im Kruge.
Was mit den Tränen geschieht? – Sie machten mich schwer,
machten mich blinder und machten mich schillern am Buge,
machten mich brüchig zuletzt und machten mich leer.


Schweigen und Sehnen

Schweigen, um des Friedens willen. In der Komfortzone verharren, um sich selbst und andere nicht zu belasten – darin sind wir geübt. Was uns jedoch schwerfällt: mit den Konsequenzen zu leben. Innerlich rennen wir, bis uns die Luft ausgeht, bis der Atem stockt und die Ausreden mit ihm versiegen. Bis die Füsse wund sind und das brennende Salz unserer Tränen auf der Haut jeden anderen Schmerz überdeckt.

Die Angst ist nicht rational, aber sie ist allgegenwärtig. Sich einlassen bedeutet loslassen – und gerade deshalb halten wir lieber fest. In meinem Kopf kreisen Bilder, Melodien und Texte, Befürchtungen und auch du. Wer Berge erklimmt, weiss stets um die Gefahr des Abgrunds. Doch während ich auf Normalnull bleibe, wünsche ich mir, ein Seiltänzer zu sein.



"Der folgende Text und das dazugehörige Bild sind einige Tage später entstanden.”

Ich hasse es, wie gleichgültig den Menschen alles ist, wie verdammt gleichgültig.

Sie sehen die Schönheit in den Dingen nicht. Sie sehen nicht, wer ich bin, was ich bin; sie wollen es nicht sehen. Es interessiert sie einfach nicht.Vor den Kopf gestossen, das bin und wurde ich; wieder und wieder. Die Blicke, die an mir vorbeigleiten, sind wie Schläge ins Gesicht; jedes Lachen, das nicht mir gilt, sticht beherzt zu; Nadel in mein Herz, mein Herz als Nadelkissen. Ja, das Bild gefällt mir, und – fingernaegel auf meiner haut; weisse kratzspuren, die bald verblassen werden – ich merke: Der Blick richtet sich nach innen, wenn die Welt dort draussen zusammenbricht. Nach innen, ins Dunkle; da, wo keine Stimmen verletzen können und keine Geste die  Tränen in mir hoch kochen lässt. Nur ich und leere Worte und der Wunsch, an nichts denken zu können.

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No. 14 Am Rande der Nacht

Am Rande der Nacht

Meine Stube und diese Weite,
wach über nachbetendem Land, –
ist Eines. Ich bin eine Saite,
über rauschende breite
Resonanzen gespannt.

Die Dinge sind Geigenleiber,
von murrendem Dunkel voll;
drin träumt das Weinen der Weiber,
drin rührt sich im Schlafe der Groll
ganzer Geschlechter...

Ich soll
silbern erzittern: dann wird
Alles unter mir leben,
und was in den Dingen irrt,
wird nach dem Lichte streben,
das von meinem tanzenden Tone,
um welchen der Himmel wellt,
durch schmale, schmachtende Spalten
in die alten
Abgründe ohne
Ende fällt


Zwischen Tag und Nacht

Wenn die Sonne untergeht, spüren wir das doppelte Gewicht und unsere Beine scheinen kaum noch zu tragen. Weder dich, noch deine Wunden oder deine Zweifel. Doch was macht das schon? Vom Zusammenbruch sind wir weit entfernt, so weit, dass am anderen Ende unserer Gedanken noch Mittag herrscht, während hier der Abend wie ein Einschlaflied über uns rollt. Wir sind weder nachtblind noch vom Tageslicht benommen, nur leicht verwirrt über die Tatsache, dass nichts uns aus der Bahn wirft.

In letzter Zeit kann ich nachts nicht einschlafen. Oft wird es 3 oder sogar 4 Uhr morgens, bevor ich endlich etwas Schlaf finde. Solange lese ich oder lausche dem Regen. Wenn es nicht regnet, was meistens der Fall ist, höre ich meinen Gedanken zu. Das ist nicht unbedingt leicht und auch nicht angenehm, aber ich werde immer besser darin, es auszuhalten.

Manchmal reise ich dabei in der Zeit vor und zurück, bis mir schwindelig wird. Ich sage mir, dass ich ein alter Mann bin, in der Hoffnung, dieser Satz bringt mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Doch er macht mich nur traurig. Die Ratlosigkeit, in der ich mich schlaflos verliere, berührt er nicht.

Ich dachte immer, alte Leute seien einverstanden damit, alt zu sein. Ich dachte, wenn ich überhaupt über alte Leute nachdachte, Alte seien einfach ganz und gar alte Leute. Doch das Alter ist eine Überraschung. Ja es überrascht mich immer wieder, plötzlich alt zu sein.


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No. 12.1 Der Lesende

Der Lesende

Ich las schon lang. Seit dieser Nachmittag,
mit Regen rauschend, an den Fenstern lag.
Vom Winde draussen hörte ich nichts mehr:
mein Buch war schwer.
Ich sah ihm in die Blätter wie in Mienen,
die dunkel werden von Nachdenklichkeit,
und um mein Lesen staute sich die Zeit. -
Auf einmal sind die Seiten überschienen,
und statt der bangen Wortverworrenheit
steht: Abend, Abend... überall auf ihnen.
Ich schau noch nicht hinaus, und doch zerreissen
die langen Zeilen, und die Worte rollen
von ihren Fäden fort, wohin sie wollen...
Da weiss ich es: über den übervollen
glänzenden Gärten sind die Himmel weit;
die Sonne hat noch einmal kommen sollen. -
Und jetzt wird Sommernacht, soweit man sieht:
zu wenig Gruppen stellt sich das Verstreute,
dunkel, auf langen Wegen, gehn die Leute,
und seltsam weit, als ob es mehr bedeute,
hört man das Wenige, das noch geschieht.

Und wenn ich jetzt vom Buch die Augen hebe,
wird nichts befremdlich sein und alles gross.
Dort draussen ist, was ich hier drinnen lebe,
und hier und dort ist alles grenzenlos;
nur dass ich mich noch mehr damit verwebe,
wenn meine Blicke an die Dinge passen
und an die ernste Einfachheit der Massen, -
da wächst die Erde über sich hinaus.
Den ganzen Himmel scheint sie zu umfassen:
der erste Stern ist wie das letzte Haus.

Die verlorene Besinnlichkeit

Man verpasst es, unbemerkt. Diese Besinnlichkeit, das Runterkommen und mal nicht Rumwuseln, das Einkuscheln in eine Decke mit einer Kanne Tee und in einem Buch lesen, das In-die-Luft-gucken und einfach glücklich sein. Aufwachen und feststellen, dass die Zeit viel zu schnell vergeht zwischen unausgeschlafen Arbeit und totmüde ins Bett fallen, aufwachen und trotzdem weiterschlafen innendrin, nur zwischendurch mal die Augen aufmachen, wenn dir das Herz aufgeht für ein paar Stunden oder ein paar Minuten, plop, wie eine Flasche Wein und dann schnell daraus trinken so viel nur geht, bevor es sich leise mit einem Ziehen in der Brust wieder schliesst.

Am Rande der Nacht I

Ein neues Bild

Anfangs las ich widerwillig, doch bald konnte ich nicht mehr aufhören, wie bei einem Buch, das man erst liest, weil man es muss, und das einen plötzlich packt.

Ich hatte ein neues Bild gemalt. Es war das erste Werk, das ich unten rechts signierte, und ich stellte es im Shop ein. Nach drei Tagen wurde es von einer Käuferin erworben. Ich machte noch ein Foto davon, schlug es vorsichtig in Papier ein und brachte es zur Post.

Vier Wochen später fand ich in meinem Postfach eine vorsichtige Nachricht, die sich las wie ein leises Anklopfen an einer Tür, von der man nicht weiss, was sich dahinter verbirgt. Sie fragte, ob sie mir schreiben dürfe. Ich war unschlüssig, was ich antworten sollte, und schrieb schliesslich: Ja. Als ich am Abend nach Hause kam, fand ich eine neue Nachricht von ihr vor.

„Darf ich dir erzählen, was mir durch den Kopf geht, wenn ich das Bild sehe? Warum ich es unbedingt haben musste?“

Ich wollte ihr den Spass nicht verderben, tippte ein kurzes Ja und klickte die Nachricht weg. Ich war gerade ausreichend beschäftigt und hatte nicht die Musse, mich tiefer damit zu befassen. Wochenlang hörte ich nichts mehr von ihr. Dann kam eine neue Nachricht. Diesmal war sie mehrere Seiten lang. Sie schrieb von dem Bild, von erfüllten Wünschen, von Ideen, die sie abgehakt hatte, und von durchkreuzten Plänen. Von Hunger und Sehnsüchten. Von Farben, Hass, Wut, Trauer und vielen Gefühlen. Mit erbarmungsloser Offenheit.

Anfangs las ich widerwillig, doch bald konnte ich nicht mehr aufhören, wie bei einem Buch, das man erst liest, weil man es muss, und das einen plötzlich packt. Die Nachricht liess mich fassungslos zurück. Aber ich konnte ihr nicht antworten. Drei Wochen lang war ich danach damit beschäftigt, alles neu zu ordnen. Dann antwortete ich.

Die Monate vergingen, und bald schrieben wir uns schon ein Jahr lang. Unsere Leben waren wie ein Riesenrad, das sich immer weiter drehte: Wir stiegen ein und aus, doch kurz darauf stiegen wir immer wieder ein, auf eine neue Fahrt mit der Hoffnung auf eine neue Aussicht. Oft fehlte uns das Geld für Fahrkarten, also fuhren wir schwarz und zitterten nervös, dass niemand es bemerken würde. Wir standen an den Fenstern der Gondeln, sahen nach draussen und blickten lange auf den Horizont. Manchmal erzählten wir einander von der Aussicht, die doch immer die gleiche war und sich doch mit den Tages- und Jahreszeiten veränderte.

Das Jahr ging zu Ende und der Frühling nahte. Sie hatte Urlaub. Ich auch.

Die Strassenbeleuchtung erlosch gerade, als ich mich früh morgens in den Zug setzte. Allein drei Nachtigallen in einem Baum machen noch keinen Frühling, doch eine Ahnung vom Ende des Winters hing in der Morgendämmerung zwischen zwei Strassenzügen. Nach zwei Stunden stand ich vor einem hässlichen, ockergelben Hochhaus, das nur die Morgensonne in ein schönes Licht tauchen konnte. Ich stieg zwei Stufen zum Eingang hoch und läutete an der Haustür. Ein Summen ertönte, ich drückte und ging langsam die Stufen hinauf. Sie wohnte im zweiten Stock.

Sie stand schon in der Tür und war hübscher als auf den Handyfotos. Ich beobachtete ihre Mimik. Für einen winzigen Augenblick erkannte ich eine Irritation in ihrem Blick, sie sah mich noch einmal an. Eine kleine Enttäuschung lag zwischen uns auf der Fussmatte. Wie einen alten Schuh trat sie sie mit einer Fussbewegung zur Seite, bat mich herein, hängte meine Jacke an die Garderobe, goss Kaffee in zwei Becher und setzte sich zu mir an den Küchentisch. Und dann redeten wir. Redeten, redeten, redeten.

Diese Vertrautheit in der Fremde. Diese Verwirrung, jemanden zu sehen, eine Unbekannte, deren Innerstes man so gut kennt. Ich versuchte, alles, was ich aus ihren Nachrichten und den Telefonaten mit ihr wusste, zusammen mit ihrer Mimik, ihren Gesten, ihren Bewegungen, ihrem Körper, zu einem Bild zusammenzufügen. Ich hatte ein Kratzen im Hals, wenn ich schluckte.

Heute schreiben wir uns immer noch regelmässig. Sie ist verheiratet und hat ein Kind und erzählt mir von Zeit zu Zeit ihre Lebenserlebnisse.

 

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