No. 19 Mein Leben ist wie leise See
Mein Leben ist wie leise See
Mein Leben ist wie leise See:
Wohnt in den Uferhäusern das Weh,
wagt sich nicht aus den Höfen.
Nur manchmal zittert ein Nahn und Fliehn:
Aufgestörte Wünsche ziehn
darüber wie silberne Möwen.
Und dann ist alles wieder still. . .
Und weisst du was mein Leben will,
hast du es schon verstanden?
Wie eine Welle im Morgenmeer
will es, rauschend und muschelschwer,
an deiner Seele landen.
Das Gleichgewicht der Gegensätze
Ein Lächeln, ein Spiegelbild. Die Leichtigkeit lässt dich vergessen, wie fest du am Boden haftest, wie in Kaugummi getreten, losgerissen, mit einem leisen Quietschen unter dem Schuh. Du ignorierst es. Stattdessen kaust du Nüsse und lächelst unbekümmert, während die Menschen um dich herum deinem Beispiel folgen. In diesem Moment bist du ein Leuchtfeuer, vielleicht auch nur ein flackerndes Streichholz, wer weiss, wie lange es brennt, wie gross es noch wird, oder ob es einfach erlischt. Du sprichst einen Namen aus, zögernd, als würdest du mit einem feinen Pinsel auf zartem Papier schreiben. Es ist nicht dein eigener Name. Und plötzlich staunst du über dich selbst.
Die Welt um dich herum bemerkt nicht, welches Wunder du mit dir trägst, wie ein Sperling, so leicht liegt es dir im Herzen und auf der Zunge. Doch in deinem Magen lastet noch immer dieser Klumpen aus Gold, schwer wie ein vergessener Schatz.
Ich wühle im Dreck und schütte eine Handvoll Erde darüber. Sand, kleine Steine und verfaulte Blätter sammeln sich unter meinen Fingernägeln. Es fühlt sich an wie eine Beerdigung, Asche zu Asche. Irgendwann legt sich der Staub von allein darüber.
Wie oft steuern wir verwirrt durch die Welt, weil der Kopf nicht begreifen kann, dass das Herz überschlägt; wie blind wir sind oder, genauer gesagt, wie verschleiert unser Blick wird, wenn alles durch winzige Details und die eigene Angst ins Chaos gerät. Du stehst im Mittelpunkt, verlierst aber deinen Halt und landest irgendwo am Rand, während dein Verstand von der Wucht deiner Emotionen überwältigt wird. Triumphierend stürzen sich deine Gefühle auf die Situation, durchwühlen deine Gedanken wie Plünderer und lassen dir nichts anderes übrig, als stumm zuzusehen. Du bist entwaffnet von einem Meister der Täuschung, zu schwach, um gegen die Macht deiner Furcht anzutreten und die Apokalypse ist ohnehin längst da. Wozu noch kämpfen? Du bist müde, erschöpft und desillusioniert.
Doch nach der Schlacht, wenn du verletzt und sprachlos zurückbleibst, taucht diese verfluchte Hoffnung plötzlich auf. Zu spät wie immer, aber doch rechtzeitig, gerade noch.
No. 18.1 Glück
Glück ist ein leiser Schatten, der sich im Innersten niederlässt, uns berührt und doch ungreifbar bleibt. Es ist kein Geschenk, das man austauschen kann, kein Besitz, den man weiterreicht. Es kommt und geht lautlos, unabhängig von allem Äusseren.
Wer wirklich glücklich ist, trägt es in sich, nicht als Ergebnis, sondern als Zustand, frei von Erklärung oder Teilbarkeit. Zwei Menschen mögen nebeneinander glücklich sein, doch jeder hat es für sich gefunden, allein, in jenem Raum, den keine Worte betreten können.
Ich lieb ein pulsierendes Leben
Ich lieb ein pulsierendes Leben,
das prickelt und schwellet und quillt,
ein ewiges Senken und Heben,
ein Sehnen, das niemals sich stillt.
Ein stetiges Wogen und Wagen
auf schwanker, gefährlicher Bahn,
von den Wellen des Glückes getragen
im leichten, gebrechlichen Kahn ....
Und senkt einst die Göttin die Waage,
zerreisst sie, was mild sie gewebt, –
ich schliesse die Augen und sage:
Ich habe geliebt und gelebt!
Das Gefühl, wenn ein Lied erklingt, es ist, als ob die Musik uns erlöst.
Ich bin überzeugt, dass im Innersten eines jeden die Vernunft und das rationale Denken vorherrschen, während die Hoffnung eher oberflächlich erscheint, wie eine zarte Staubschicht, die sich um unseren Kern legt. In jedem Menschen wohnt jenes undefinierbare Etwas, das in dem Moment, in dem die Hoffnung in einem klirrenden Zerbrechen zusammenfällt, leise verkündet: „Ich hab’s ja gewusst.“
Du wusstest es immer, doch du wolltest es nicht anerkennen, du wolltest hoffen. Du sehntest dich nach Farbe, nach intensiven Gefühlen, denn für dich ist das tiefste Schwarz lebendiger als jede graue Farblosigkeit. Die prickelnden Ameisen auf der Haut, das donnernde Herzklopfen in den Ohren, schweissnasse Finger, all das bezeugt dein echtes Erleben. Du könntest dir deine Besessenheit oder vermeintliche Faszination eingeredet haben und dabei selbst misstrauisch werden, aber du verschliesst deine Ohren vor der kalten Stimme der Vernunft und beharrst darauf, dass es im Leben etwas geben muss, das ihm dieses gewisse Etwas verleiht.
Die Besonderheit.
Und dann, fast augenblicklich, entzündest du wieder den Hoffnungsschimmer, wartest, bis die Dunkelheit den Raum erfüllt, und schwebst mit deinen Träumen davon, als würdest du spiralförmig in die Schwärze eintauchen.
Gerade in der Nacht ist die Sehnsucht am intensivsten.
Trag mich nach Hause, wo immer das ist, bring mich in die Wärme einer Umarmung und halt mich nicht fest, aber fest im Arm. Ich brauche nicht mehr nur eine Schulter zum Anlehnen, ich brauche zwei davon und einen Rücken, auf den ich mich stützen kann, wenn mir die Knie weich werden und meine Stimme versagt angesichts der Größe der Geschichten, die das Leben so schreibt. Lass mich atmen und weinen.
Das Buch zur Wortmalerei
Rainer Maria Rilke
Glück
Ob flüchtig wie ein Windhauch im Sommer, aufregend wie das erste Knospen von Blumen im Frühling oder beruhigend wie ein warmer Sommerregen – das Glück ist bei Rainer Maria Rilke stets das höchste und zarteste Gut, nach dem der Mensch sich sehnt.
Und dazu passt ja auch “Irgendeinisch fingt ds Glück eim” von Züri West
No. 17 Alles ist eins
Alles ist eins
Einmal, am Rande des Hains,
stehn wir einsam beisammen
und sind festlich, wie Flammen
fühlen: Alles ist Eins.
Halten uns fest umfasst;
werden im lauschenden Lande
durch die weichen Gewande
wachsen wie Ast an Ast.
Wiegt ein erwachender Hauch
die Dolden des Oleanders:
sieh, wir sind nicht mehr anders,
und wir wiegen uns auch.
Meine Seele spürt,
dass wir am Tore tasten.
Und sie fragt dich im Rasten:
Hast Du mich hergeführt?
Und du lächelst darauf
so herrlich und heiter
und: bald wandern wir weiter:
Tore gehn auf..
Und wir sind nichtmehr zag,
unser Weg wird kein Weh sein,
wird eine lange Allee sein
aus dem vergangenen Tag.
Alles ist ein Moment, der bleibt
Es gibt solche Wochen, in denen kein Stein auf dem anderen bleibt. Dinge, die lange in der Schwebe waren, brechen zusammen. Dissonanzen eskalieren, und Unkenntnis weist den falschen Weg.
Die vergangenen Tage fühlten sich an wie die schlimmsten Träume: Ich irrte durch enge, verbauten Gänge, stand vor unüberwindbaren Hindernissen und obwohl ich in meinen Träumen oft mühelos Wände erklimmen oder fliegen kann, fehlte dieses Gefühl der Freiheit diesmal. Orientierungslos stolperte ich durch Dunkelheit, ohne Ziel, das Tageslicht schmerzlich vermissend, und ohne Menschen, die mir helfen oder wenigstens Auskunft geben könnten.
Bei Tag waren es natürlich keine tatsächlichen Gänge, sondern das graue Wetter, das ein Gefühl der Enge hervorrief. Dazu kamen die verschiedensten Hindernisse, die es zu überwinden galt. Ich gehöre zu denjenigen, die kaum arbeiten können, wenn hinter ihnen ein Berg unerledigter Probleme lauert. Die Migräne war schliesslich das lauteste Alarmzeichen, doch wo ein Alarm ertönt, ist die Lösung oft noch weit entfernt.
Und doch, wie so oft, reicht es, ein Problem entschlossen anzupacken, und plötzlich lösen sich auch die anderen Schwierigkeiten. Es ist ein Domino-Effekt: Fällt eines, fallen sie alle. Jetzt bin ich erschöpft und unausgeschlafen, aber dennoch froh.
Trotz der Panik fand ich die Zeit, „Gesang der Fledermäuse“ von Olga Tokarczuk zu lesen. Ein beklemmendes Buch, gruselig auf seine Weise, aber unglaublich faszinierend und bewegend.
Die Kunst des Aufschiebens
Ob Texte sich nicht von allein schreiben? Manchmal scheint das tatsächlich der Hintergedanke zu sein, die stille Hoffnung. Dass sich die Worte in meinem Kopf ganz automatisch zu einem Gefüge formen und sich unsichtbar auf das Papier ergiessen, von selbst, mühelos. Warum sonst finde ich immer wieder andere Beschäftigungen, weiche aus, schiebe das Wichtige vor mir her wie eine Kehrschaufel einen Berg Schmutz. Doch anstatt sich in Gold zu verwandeln, wächst und wächst dieser Berg aus Unordnung und bleibt, was er ist.
Gedanken, die ziellos schweifen, führen nicht zum Ziel. Stattdessen umkreisen sie es, immer wieder daran vorbei, wie ein Suchscheinwerfer, wie der Streifen eines Leuchtturms, rastlos und doch ohne wahre Richtung. Und während die Zeit unaufhaltsam verstreicht, sitze ich da, bis ich ganz durchsichtig werde, kaum mehr als ein blasses Flimmern. Leeres Gerede füllt die Lücken; ich lese Halbsätze im Halbschlaf und klicke mich durch ganze Universen, ohne dass etwas davon in mir haften bleibt.
Wann habe ich zuletzt laut gelacht? Wann laut gedacht: Es gibt nichts Wertvolleres als ein bisschen Freizeit? Frei, in Augenblicken, in Zelten, in grossen Zeiten, mitzumischen, aufzutischen, aufzuheitern. Ein Stück Entspannung zwischen all dem Ziehen und Zerren. Eine Lücke im Getümmel, eine Brise auf der schweissnassen Stirn. Aber wer arbeitet heute noch so, dass ihm der Schweiss von den Beinen rinnt? Das macht man doch, eben, nur noch in seiner Freizeit. Schweiss erzeugen.
Leise, doch bedeutungsvolle Schritte. Etwas in mir schält sich heraus, wie eine reife Frucht, wie ein verpupptes Tier, das seine Hülle sprengt und fällt. Ein Klumpen Haut bleibt zurück, das, was übrig bleibt. Das bin ich.
„Gesang der Fledermäuse“ ist weit mehr als ein Kriminalroman: Olga Tokarczuk entwirft hier ein poetisches, subversives und zugleich verstörendes Panorama der menschlichen Verlorenheit.
Im Zentrum steht Janina Duszejko, eine eigenwillige ältere Frau, passionierte Tierliebhaberin und Hobbyastrologin, die sich am Rande eines abgelegenen polnischen Dorfes zunehmend in die Abgründe ihrer Umgebung verstrickt. Die Serie rätselhafter Todesfälle unter den Dorfmännern ist dabei weniger ein klassisches Krimi-Motiv als ein Anlass für grössere Fragen.
Tokarczuk nutzt Janinas Stimme, um eine tiefgreifende Anklage gegen patriarchale, religiöse und gesellschaftliche Systeme zu formulieren. Systeme, die Natur, Empathie und individuelle Freiheit gleichermassen unterdrücken.
In einer Sprache, die zwischen zarter Melancholie und scharfem Sarkasmus changiert, stellt der Roman die drängende Frage: Was bedeutet Gerechtigkeit und wer nimmt sich das Recht, sie herzustellen?
„Gesang der Fledermäuse“ ist zugleich ein ökologisches Manifest, eine Parabel über die Zerbrechlichkeit des Lebens und eine kritische Meditation über die moralische Blindheit unserer Zeit.
Tokarczuks Werk öffnet Räume für Zweifel, Widerspruch und Staunen. Und hallt lange nach dem letzten Satz im Leser nach.
No. 16 Begegnung
Begegnung
Zu solchen Stunden gehn wir also hin
und gehen jahrelang zu solchen Stunden:
auf einmal ist ein Horchender gefunden,
und alle Worte haben Sinn.
Alle Gebärden sind auf einmal gross
und ausgewachsen wie ein Flügelschlagen,
sie scheinen uns einander zuzutragen,
und wir sind noch vom Fluge atemlos, –
wenn schon das Schweigen kommt, auf das wir warten,
kommt wie die Nacht, von grossen Sternen breit:
zwei Menschen wachsen wie im selben Garten,
und dieser Garten ist nicht in der Zeit.
Das erste Wort wird beide wieder trennen,
ein jeder ist, mehr als vorher, allein;
sie werden lächeln und sich kaum erkennen,
aber sie werden beide grösser sein.
Das Jetzt festhalten und loslassen
Im Hier und Jetzt zu leben hat für mich eine tiefe Bedeutung – und doch stellt es mich immer wieder vor Herausforderungen. Wir erzählen die Geschichten der Vergangenheit und träumen von den Möglichkeiten der Zukunft. Dabei wird das Hier und Jetzt unwiderruflich zum Teil des Morgens, und das Morgen schliesslich zum Teil des Gestern.
Momente der Ruhe und des Glücks finde ich besonders dann, wenn ich allein bin. Diese Augenblicke ermöglichen es mir, innezuhalten, Dankbarkeit zu empfinden und mich ganz in Zufriedenheit zu verlieren. Doch auch in Gesellschaft gelingt es mir, den Moment zu geniessen – selbst bei spontanen Begegnungen. In solchen Situationen schalte ich bewusst meinen Verstand aus, öffne mein Herz und nehme die positiven Energien um mich herum auf – oft so intensiv, dass mir vor Freude eine Träne über die Wange läuft.
Aus solchen Momenten entstehen nicht selten Bilder für meine Kunstprojekte – Porträts, die die Tiefe und Authentizität der Begegnung einfangen. Doch manchmal lasse ich die Kamera bewusst beiseite, um den Moment in seiner ganzen Unmittelbarkeit zu erleben. Das kann ich zwar später bereuen, wenn keine bleibenden Erinnerungen entstanden sind, aber der reine Augenblick fühlt sich oft so wertvoll an, dass ich diesen Kompromiss eingehe.
Bei besonderen Anlässen wie Geburtstagsfeiern oder einem Sommertag am Meer halte ich die Momente dennoch gerne für meine Familie und Freunde fest. Es sind meist spontane, ungezwungene Schnappschüsse. Gelegentlich bin auch ich selbst auf einem Bild zu sehen – meist in einem inszenierten Rahmen. Doch lieber ein gestelltes Foto, als später durch die Bilder zu blättern und das Gefühl zu haben, nie wirklich dabei gewesen zu sein.



“Während des Einkaufs sprach ich sie spontan an und fragte, ob sie Interesse hätte, bei meinem Projekt "Wortmalereien" mitzuwirken. Zu meiner Freude sagte sie zu, und wir entschieden uns, uns bei einem Kaffee näher kennenzulernen. Am Nachmittag trafen wir uns schliesslich bei ihr zu Hause, wo diese Bilder entstanden sind.”
No. 15 Tränenkrüglein
Tränenkrüglein
Andere fassen den Wein, andere fassen die Öle
in dem gehöhlten Gewölb, das ihre Wandung umschrieb.
Ich, als ein kleineres Mass und als schlankestes, höhle
mich einem andern Bedarf, stürzenden Tränen zulieb.
Wein wird reicher, und Öl klärt sich noch weiter im Kruge.
Was mit den Tränen geschieht? – Sie machten mich schwer,
machten mich blinder und machten mich schillern am Buge,
machten mich brüchig zuletzt und machten mich leer.
Schweigen und Sehnen
Schweigen, um des Friedens willen. In der Komfortzone verharren, um sich selbst und andere nicht zu belasten – darin sind wir geübt. Was uns jedoch schwerfällt: mit den Konsequenzen zu leben. Innerlich rennen wir, bis uns die Luft ausgeht, bis der Atem stockt und die Ausreden mit ihm versiegen. Bis die Füsse wund sind und das brennende Salz unserer Tränen auf der Haut jeden anderen Schmerz überdeckt.
Die Angst ist nicht rational, aber sie ist allgegenwärtig. Sich einlassen bedeutet loslassen – und gerade deshalb halten wir lieber fest. In meinem Kopf kreisen Bilder, Melodien und Texte, Befürchtungen und auch du. Wer Berge erklimmt, weiss stets um die Gefahr des Abgrunds. Doch während ich auf Normalnull bleibe, wünsche ich mir, ein Seiltänzer zu sein.
"Der folgende Text und das dazugehörige Bild sind einige Tage später entstanden.”
Ich hasse es, wie gleichgültig den Menschen alles ist, wie verdammt gleichgültig.
Sie sehen die Schönheit in den Dingen nicht. Sie sehen nicht, wer ich bin, was ich bin; sie wollen es nicht sehen. Es interessiert sie einfach nicht.Vor den Kopf gestossen, das bin und wurde ich; wieder und wieder. Die Blicke, die an mir vorbeigleiten, sind wie Schläge ins Gesicht; jedes Lachen, das nicht mir gilt, sticht beherzt zu; Nadel in mein Herz, mein Herz als Nadelkissen. Ja, das Bild gefällt mir, und – fingernaegel auf meiner haut; weisse kratzspuren, die bald verblassen werden – ich merke: Der Blick richtet sich nach innen, wenn die Welt dort draussen zusammenbricht. Nach innen, ins Dunkle; da, wo keine Stimmen verletzen können und keine Geste die Tränen in mir hoch kochen lässt. Nur ich und leere Worte und der Wunsch, an nichts denken zu können.
No. 14 Am Rande der Nacht
Am Rande der Nacht
Meine Stube und diese Weite,
wach über nachbetendem Land, –
ist Eines. Ich bin eine Saite,
über rauschende breite
Resonanzen gespannt.
Die Dinge sind Geigenleiber,
von murrendem Dunkel voll;
drin träumt das Weinen der Weiber,
drin rührt sich im Schlafe der Groll
ganzer Geschlechter...
Ich soll
silbern erzittern: dann wird
Alles unter mir leben,
und was in den Dingen irrt,
wird nach dem Lichte streben,
das von meinem tanzenden Tone,
um welchen der Himmel wellt,
durch schmale, schmachtende Spalten
in die alten
Abgründe ohne
Ende fällt
Zwischen Tag und Nacht
Wenn die Sonne untergeht, spüren wir das doppelte Gewicht und unsere Beine scheinen kaum noch zu tragen. Weder dich, noch deine Wunden oder deine Zweifel. Doch was macht das schon? Vom Zusammenbruch sind wir weit entfernt, so weit, dass am anderen Ende unserer Gedanken noch Mittag herrscht, während hier der Abend wie ein Einschlaflied über uns rollt. Wir sind weder nachtblind noch vom Tageslicht benommen, nur leicht verwirrt über die Tatsache, dass nichts uns aus der Bahn wirft.
In letzter Zeit kann ich nachts nicht einschlafen. Oft wird es 3 oder sogar 4 Uhr morgens, bevor ich endlich etwas Schlaf finde. Solange lese ich oder lausche dem Regen. Wenn es nicht regnet, was meistens der Fall ist, höre ich meinen Gedanken zu. Das ist nicht unbedingt leicht und auch nicht angenehm, aber ich werde immer besser darin, es auszuhalten.
Manchmal reise ich dabei in der Zeit vor und zurück, bis mir schwindelig wird. Ich sage mir, dass ich ein alter Mann bin, in der Hoffnung, dieser Satz bringt mich auf den Boden der Tatsachen zurück. Doch er macht mich nur traurig. Die Ratlosigkeit, in der ich mich schlaflos verliere, berührt er nicht.
Ich dachte immer, alte Leute seien einverstanden damit, alt zu sein. Ich dachte, wenn ich überhaupt über alte Leute nachdachte, Alte seien einfach ganz und gar alte Leute. Doch das Alter ist eine Überraschung. Ja es überrascht mich immer wieder, plötzlich alt zu sein.
No. 12.1 Der Lesende
Der Lesende
Ich las schon lang. Seit dieser Nachmittag,
mit Regen rauschend, an den Fenstern lag.
Vom Winde draussen hörte ich nichts mehr:
mein Buch war schwer.
Ich sah ihm in die Blätter wie in Mienen,
die dunkel werden von Nachdenklichkeit,
und um mein Lesen staute sich die Zeit. -
Auf einmal sind die Seiten überschienen,
und statt der bangen Wortverworrenheit
steht: Abend, Abend... überall auf ihnen.
Ich schau noch nicht hinaus, und doch zerreissen
die langen Zeilen, und die Worte rollen
von ihren Fäden fort, wohin sie wollen...
Da weiss ich es: über den übervollen
glänzenden Gärten sind die Himmel weit;
die Sonne hat noch einmal kommen sollen. -
Und jetzt wird Sommernacht, soweit man sieht:
zu wenig Gruppen stellt sich das Verstreute,
dunkel, auf langen Wegen, gehn die Leute,
und seltsam weit, als ob es mehr bedeute,
hört man das Wenige, das noch geschieht.
Und wenn ich jetzt vom Buch die Augen hebe,
wird nichts befremdlich sein und alles gross.
Dort draussen ist, was ich hier drinnen lebe,
und hier und dort ist alles grenzenlos;
nur dass ich mich noch mehr damit verwebe,
wenn meine Blicke an die Dinge passen
und an die ernste Einfachheit der Massen, -
da wächst die Erde über sich hinaus.
Den ganzen Himmel scheint sie zu umfassen:
der erste Stern ist wie das letzte Haus.
Die verlorene Besinnlichkeit
Man verpasst es, unbemerkt. Diese Besinnlichkeit, das Runterkommen und mal nicht Rumwuseln, das Einkuscheln in eine Decke mit einer Kanne Tee und in einem Buch lesen, das In-die-Luft-gucken und einfach glücklich sein. Aufwachen und feststellen, dass die Zeit viel zu schnell vergeht zwischen unausgeschlafen Arbeit und totmüde ins Bett fallen, aufwachen und trotzdem weiterschlafen innendrin, nur zwischendurch mal die Augen aufmachen, wenn dir das Herz aufgeht für ein paar Stunden oder ein paar Minuten, plop, wie eine Flasche Wein und dann schnell daraus trinken so viel nur geht, bevor es sich leise mit einem Ziehen in der Brust wieder schliesst.
Am Rande der Nacht I
Ein neues Bild
Anfangs las ich widerwillig, doch bald konnte ich nicht mehr aufhören, wie bei einem Buch, das man erst liest, weil man es muss, und das einen plötzlich packt.
Ich hatte ein neues Bild gemalt. Es war das erste Werk, das ich unten rechts signierte, und ich stellte es im Shop ein. Nach drei Tagen wurde es von einer Käuferin erworben. Ich machte noch ein Foto davon, schlug es vorsichtig in Papier ein und brachte es zur Post.
Vier Wochen später fand ich in meinem Postfach eine vorsichtige Nachricht, die sich las wie ein leises Anklopfen an einer Tür, von der man nicht weiss, was sich dahinter verbirgt. Sie fragte, ob sie mir schreiben dürfe. Ich war unschlüssig, was ich antworten sollte, und schrieb schliesslich: Ja. Als ich am Abend nach Hause kam, fand ich eine neue Nachricht von ihr vor.
„Darf ich dir erzählen, was mir durch den Kopf geht, wenn ich das Bild sehe? Warum ich es unbedingt haben musste?“
Ich wollte ihr den Spass nicht verderben, tippte ein kurzes Ja und klickte die Nachricht weg. Ich war gerade ausreichend beschäftigt und hatte nicht die Musse, mich tiefer damit zu befassen. Wochenlang hörte ich nichts mehr von ihr. Dann kam eine neue Nachricht. Diesmal war sie mehrere Seiten lang. Sie schrieb von dem Bild, von erfüllten Wünschen, von Ideen, die sie abgehakt hatte, und von durchkreuzten Plänen. Von Hunger und Sehnsüchten. Von Farben, Hass, Wut, Trauer und vielen Gefühlen. Mit erbarmungsloser Offenheit.
Anfangs las ich widerwillig, doch bald konnte ich nicht mehr aufhören, wie bei einem Buch, das man erst liest, weil man es muss, und das einen plötzlich packt. Die Nachricht liess mich fassungslos zurück. Aber ich konnte ihr nicht antworten. Drei Wochen lang war ich danach damit beschäftigt, alles neu zu ordnen. Dann antwortete ich.
Die Monate vergingen, und bald schrieben wir uns schon ein Jahr lang. Unsere Leben waren wie ein Riesenrad, das sich immer weiter drehte: Wir stiegen ein und aus, doch kurz darauf stiegen wir immer wieder ein, auf eine neue Fahrt mit der Hoffnung auf eine neue Aussicht. Oft fehlte uns das Geld für Fahrkarten, also fuhren wir schwarz und zitterten nervös, dass niemand es bemerken würde. Wir standen an den Fenstern der Gondeln, sahen nach draussen und blickten lange auf den Horizont. Manchmal erzählten wir einander von der Aussicht, die doch immer die gleiche war und sich doch mit den Tages- und Jahreszeiten veränderte.
Das Jahr ging zu Ende und der Frühling nahte. Sie hatte Urlaub. Ich auch.
Die Strassenbeleuchtung erlosch gerade, als ich mich früh morgens in den Zug setzte. Allein drei Nachtigallen in einem Baum machen noch keinen Frühling, doch eine Ahnung vom Ende des Winters hing in der Morgendämmerung zwischen zwei Strassenzügen. Nach zwei Stunden stand ich vor einem hässlichen, ockergelben Hochhaus, das nur die Morgensonne in ein schönes Licht tauchen konnte. Ich stieg zwei Stufen zum Eingang hoch und läutete an der Haustür. Ein Summen ertönte, ich drückte und ging langsam die Stufen hinauf. Sie wohnte im zweiten Stock.
Sie stand schon in der Tür und war hübscher als auf den Handyfotos. Ich beobachtete ihre Mimik. Für einen winzigen Augenblick erkannte ich eine Irritation in ihrem Blick, sie sah mich noch einmal an. Eine kleine Enttäuschung lag zwischen uns auf der Fussmatte. Wie einen alten Schuh trat sie sie mit einer Fussbewegung zur Seite, bat mich herein, hängte meine Jacke an die Garderobe, goss Kaffee in zwei Becher und setzte sich zu mir an den Küchentisch. Und dann redeten wir. Redeten, redeten, redeten.
Diese Vertrautheit in der Fremde. Diese Verwirrung, jemanden zu sehen, eine Unbekannte, deren Innerstes man so gut kennt. Ich versuchte, alles, was ich aus ihren Nachrichten und den Telefonaten mit ihr wusste, zusammen mit ihrer Mimik, ihren Gesten, ihren Bewegungen, ihrem Körper, zu einem Bild zusammenzufügen. Ich hatte ein Kratzen im Hals, wenn ich schluckte.
Heute schreiben wir uns immer noch regelmässig. Sie ist verheiratet und hat ein Kind und erzählt mir von Zeit zu Zeit ihre Lebenserlebnisse.