No. 8 Aus der Trübe
Aus der Trübe
Aus der Trübe müder Überdruss
reisst, die wir einander bebend bringen,
uns die Botschaft. Welche? Wir verbringen -
Ach wann waren Worte diese Küsse?
Diese Küsse waren einmal Worte;
stark gesprochen an der Tür ins Freie
zwangen sie die Pforte.
Oder waren diese Küsse Schreie ..
Schreie auf so schönen Hügeln, wie sie
deine Brüste sind. Der Himmel schrie sie
in den Jugendjahren seiner Stürme.
Die Sprache der Küsse
„Ich trage ein Geheimnis in mir, das ich mit dir teilen möchte“, flüsterte ich. „Ich habe eine Botschaft für dich.“ Ihr Blick ruhte auf mir, ihre tiefen, grünen Augen suchten nach Antworten. „Welche Botschaft, mein Lieber?“ „Die Worte sind erschöpft“, gestand ich. „Sie können nicht mehr ausdrücken, was wir fühlen. Aber unsere Küsse – sie sind lebendig. Sie hallen wie Schreie über die Hügel und verbinden uns.“ Ein flüchtiges Lächeln huschte über ihr Gesicht. Sie verstand, was ich meinte. Unsere Küsse waren unsere eigene Sprache, unsere Leidenschaft. Sie drückten mehr aus als Worte es je könnten. Gemeinsam standen wir unter dem alten Eichenbaum, unsere Lippen trafen sich, und die Welt verschwamm um uns herum. Wenn der Wind über die Hügel im Emmental strich, flüsterten wir uns unsere Liebe zu. Und wenn die Stürme tobten, schrien unsere Küsse lauter als je zuvor.
Rainer Maria Rilke, begann 1914 eine Liebesaffäre mit Lou Albert-Lasard, die bis 1916 dauerte. Während dieser Zeit entstanden zahlreiche Liebesgedichte, die Rilke an Lou richtete. Er schrieb etwa einhundert Gedichte, die er fortlaufend nummerierte und ihr mit dem Titel “Dir zur Feier” widmete. Obwohl die beiden vereinbarten, dass diese Gedichte zu ihren Lebzeiten nicht veröffentlicht werden sollten, sind 48 dieser Gedichte in ihrem Nachlass erhalten geblieben.
Das Gedicht "Aus der Trübe" ist ein eindrucksvolles Beispiel für Rilkes Fähigkeit, tiefgehende Emotionen und komplexe Bilder zu vermitteln. Es befasst sich mit den Themen Liebe, Verlangen und Kommunikation, und wie diese durch Zeit und Erfahrung transformiert werden. Rilkes Verwendung von Metaphern und Symbolen lässt die Worte lebendig werden und schafft eine Verbindung zwischen den Lesern und den beschriebenen Gefühlen.
Das Bild fand seine Inspiration in einem Brief und einem Gedicht, die Rilke an Lou schrieb. Der Text wiederum entstand aus einer lebhaften Diskussion über das Küssen, das niemals vernachlässigt werden sollte.
No. 7. 1 Advent
Advent
Es treibt der Wind im Winterwalde
die Flockenherde wie ein Hirt,
und manche Tanne ahnt, wie balde
sie fromm und lichterheilig wird,
und lauscht hinaus. Den weissen Wegen
streckt sie die Zweige hin – bereit,
und wehrt dem Wind und wächst entgegen
der einen Nacht der Herrlichkeit.
Der Zauber des Advents
Du öffnest die Orangensaftflasche, giesst dir ein Glas ein und stellst sie zurück. Ich sage: „Danke, dass du fragst, aber ich habe noch.“ Ich ziehe meine Knie ans Kinn, fahre mit den Fingern durch mein Haar wie mit einem Kamm und schaue aus dem Fenster. Das Müllauto rollt über die Kreuzung, und der Mann mit dem grossen Hund schlendert wie jeden Tag um diese Zeit gemächlich zwischen den parkenden Autos entlang. Ansonsten ist es ruhig.
Es ist Adventszeit, und niemand scheint jetzt den Drang zu haben, die Welt zu verändern – das verschiebt man lieber ins neue Jahr. Und dann ist da das Grünzeug: Der Baum wird ausgesucht, gekauft, vorsichtig nach Hause gebracht, aufgestellt, gewässert und liebevoll geschmückt. Bald liegen die Geschenke darunter, der Baum erstrahlt im Licht und wird besungen, und inmitten all dieser Vorbereitungen entsteht eine warme, festliche Atmosphäre. Vielleicht kippt er später einmal um und wird wieder aufgerichtet – auch das gehört dazu. Nach den Feiertagen wird er dann entkleidet, abgebaut und schliesslich entsorgt – ebenso ein Teil des Rituals wie das Schmücken und Aufstellen.
„Wo wollen wir dieses Jahr eigentlich unseren Tannenbaum kaufen?“ frage ich lächelnd.
Ich wünsche euch von Herzen frohe Weihnachten und zahlreiche Momente voller Freude und Inspiration. Vielen Dank für eure wunderbare Unterstützung. Möge euer Weihnachtsfest erfüllt sein von Licht, Farben und Wärme.
No. 7 Lösch mir die Augen aus
Lösch mir die Augen aus
Lösch mir die Augen aus: ich kann dich sehn,
wirf mir die Ohren zu: ich kann dich hören,
und ohne Füsse kann ich zu dir gehn,
und ohne Mund noch kann ich dich beschwören.
Brich mir die Arme ab, ich fasse dich
mit meinem Herzen wie mit einer Hand,
halt mir das Herz zu, und mein Hirn wird schlagen,
und wirfst du in mein Hirn den Brand,
so werd ich dich auf meinem Blute tragen.
Eisiges Herz und Dunkle Nächte
Bier statt Fragen, Tequila statt Tränen. Wir zerbrechen nicht, nur das Herz wird uns kalt, wie ein Klumpen Eis in der Brust. Und du stehst da, wie angewurzelt, mal nicht davonlaufen, sondern leise beten, dass man das alles vielleicht nur träumt. Ein Bild brennt sich in meine Netzhaut ein und eine Narbe reisst auf, es blutet nicht, es eitert nur. Die Nacht verschlingt mich, frisst mich mit Haut und Haaren und spuckt bittere Galle aus. In dieser Stadt ist es einsam, nachts um halb zwei. Die Lichter lügen. Beton statt Ziegelsteine, eine Mauer aus einem Guss für mich und dein gefrorenes Meer. Wir fühlen uns schwer und schwerer angesichts der Leichtigkeit. Da kommen Dinge ans Licht, die keine Namen verdienen – nenn sie Dinge und reiss dich zusammen. Sammel dich vom Boden auf, zwischen den Kippen und den Pfützen und den vielen zertretenen Freuden liegt ein Stück Herz. Beinahe wäre ich daraufgetreten. Oh, es gehört mir, na sowas. Anschnallen, weitertanzen, die Füsse im Himmel, das Hirn unterm Arm und das Herz, das Herz...
(Seltsam, denke ich, wie Gedichte, obwohl sie willkürlich ausgewählt wurden, manchmal eine Art Gedankenlinie bilden. Wie sie Berührungspunkte schaffen, die ich dann versuche zu verbinden. Wie durch diese Verbindungen Bilder entstehen, manchmal dazu sogar eine Art Erkenntnis. Es drängt sich der Gedanke auf, dass eigentlich die Gedichte mich aussuchen und dann abwarten. Abwarten, um anzukommen und im besten Fall nicht nur mich zu berühren. Als wären sie Teil einer grossen Geschichte: Und keiner von uns jemals wieder allein. Sondern Teil eines Wissens, das immer schon da war, aber vergessen wurde.)
(Seit ich denken kann, faszinieren mich Augen. Ihre Komplexität und Ausdruckskraft haben mich immer wieder in ihren Bann gezogen. Dieses Bild habe ich mit Öl auf Papier gemalt und mit einem Spachtel bearbeitet. An diesem Werk habe ich regelmässig an vier Tagen gearbeitet, um die Tiefe und Lebendigkeit der Augen einzufangen. Jede Schicht Farbe und jeder Spachtelstrich war ein weiterer Schritt in die Welt der Emotionen und Geheimnisse, die Augen erzählen können.)
No. 6 Die roten Rosen waren nie so rot
Die roten Rosen waren nie so rot
Die roten Rosen waren nie so rot
Als an dem Abend, der umregnet war.
Ich dachte lange an dein sanftes Haar ...
Die roten Rosen waren nie so rot.
Es dunkelten die Büsche nie so grün
Als an dem Abend in der Regenzeit.
Ich dachte lange an dein weiches Kleid ...
Es dunkelten die Büsche nie so grün.
Die Birkenstämme standen nie so weiss
Als an dem Abend, der mit Regen sank;
Und deine Hände sah ich schön und schlank ...
Die Birkenstämme standen nie so weiss.
Die Wasser spiegelten ein schwarzes Land
An jenem Abend, den ich regnen fand;
So hab ich mich in deinem Aug erkannt ...
Die Wasser spiegelten ein schwarzes Land.
Ein Augenblick für die Ewigkeit
Und sie sieht mich an, ich blicke zurück –und plötzlich verschiebt sich alles, ein
unsichtbares Band zieht mich zu ihr hin. Der Rest der Welt verblasst, wird beinahe bedeutungslos, und erst, als sich unsere Lippen berühren, wird mir die Aussenwelt wieder bewusst. Leise flüstere ich ihren Namen, Ausdruck meiner hilflosen Freude und der Unfassbarkeit des Moments. Sie hat mein Leben soeben auf den Kopf gestellt. Ist das wirklich passiert? Es ist so überwältigend, so unfassbar gross.
Auf dem Rückweg finde ich ihre Hand, und dann legt sie ihren Arm um meine Schulter – so selbstverständlich. Ich schlinge meinen Arm um ihre Hüfte und halte ihre Finger fest, die mit ihren langsamen Streichelbewegungen eine unsagbar beruhigende Wirkung haben. Ich fühle mich – glücklich? Ja. Ja, verdammt.
Später, als sie mit dem Rücken an einen Baum gelehnt sass und sprach, legte ich, einem plötzlichen Impuls folgend, meinen Kopf in ihren Schoss. Ich sagte etwas, irgendetwas. Es war nicht wichtig. Wichtig war nur, einfach da zu sein. Meine Hand strich sanft ihren Arm entlang. Sie sprach von Ängsten, von Sehnsüchten; ich setzte mich auf und fand ihren Blick, diesen unbeschreiblich schönen Blick. Noch nie habe ich mich so aufgehoben gefühlt.
Als sie gehen musste, sträubte ich mich, sass trotzig auf dem Fleckchen Erde und wollte nicht, dass die Zeit ohne sie weiterlief. "Komm schon," sagte sie und ging in die Hocke, ein Lächeln auf den Lippen. Die Zeit schien zu stolpern. "Ich dich auch," flüsterte sie, ein rascher Kuss auf meiner Wange. Sie zog mich hoch, ein letzter Blick – und ich wusste, ich konnte nicht verloren gehen. Ihre Wärme wie ein Schutzschild, ein sanfter Kokon. Sicherheit. Die Gewissheit, zu jemandem zurückkehren zu können, Halt zu suchen und ihn zu finden. Das ist so schön.
(Das Gedicht reflektiert die Intensität von Erinnerungen und Empfindungen. In meiner Interpretation deutet die Behauptung, dass die Rosen niemals so rot waren, darauf hin, dass vergangene Erfahrungen im Licht der Gegenwart intensiver und bedeutungsvoller erscheinen. Es legt nahe, dass unsere Wahrnehmung der Welt stark von unseren inneren Emotionen und Erinnerungen beeinflusst wird. Diese roten Rosen symbolisieren nicht nur Schönheit, sondern auch die Vergänglichkeit solcher intensiver Momente und die Sehnsucht, sie festzuhalten.
Das gemalte Bild entstand kurz nachdem ich den Text geschrieben hatte und war noch auf der Staffelei, als wir die Fotos nach einer intensiven Diskussion mit nur zwei LED-Panels erstellten.)
No. 5 Magie
Magie
Aus unbeschreiblicher Verwandlung stammen
solche Gebilde-: Fühl! und glaub!
Wir leidens oft: zu Asche werden Flammen;
doch: in der Kunst: zur Flamme wird der Staub.
Hier ist Magie. In das Bereich des Zaubers
scheint das gemeine Wort hinaufgestuft...
und ist doch wirklich wie der Ruf des Taubers,
der nach der unsichtbaren Taube ruft.
Die Magie des Lebens
Vielleicht ist dieses Dahintreiben, dieses Aufstehen, Arbeiten und Freizeitgestalten ohne grosses Nachdenken, der eigentliche Normalzustand. Wenn dem so ist, dann habe ich meine Alltagssorgen und die versteckten Wunder, die man leicht übersieht, weil man den Blick stur geradeaus richtet und weder nach links noch nach rechts oder gar in den Himmel schaut, ganz gut im Griff. Dort oben gibt es derzeit ohnehin wenig zu sehen, bei all den Wolken und dem Grau.
Vielleicht ist das genau das, was ich momentan brauche – und dennoch wünsche ich mir insgeheim einen Wolkenbruch. Denn nach dem Regen kommt die Sonne, und ich gebe die Hoffnung nicht auf. Es ist die Magie des Lebens, die uns immer wieder überrascht und uns zeigt, dass nach jedem Sturm ein neuer Anfang wartet.
(Mein Aufruf zur Wertschätzung der geheimnisvollen Aspekte des Lebens ist eine Einladung, das Unerklärliche zu umarmen. In einer Welt, die von Logik und Vernunft dominiert wird, sollten wir die Magie des Unbekannten nicht vergessen. Diese rätselhaften Momente bereichern unser Leben und lassen uns staunen.)
PS:
Gestern verliess ich widerwillig das Haus und wurde sofort von einem fantastischen Himmel mit leuchtendem Blau und Grautönen überrascht. Meine Laune stieg schlagartig! Manchmal genügt eine kleine Überraschung draussen, um die Welt wieder schön zu finden. Auch Dürer lernte im Alter, das Einfache zu schätzen: „Als ich jung war, erstrebte ich Vielfalt und Neuheit; nun in meinem Alter habe ich begonnen, das natürliche Gesicht der Natur zu sehen...“
No. 4 Vor lauter Lauschen und Staunen sei still
Vor lauter Lauschen und Staunen sei still
Vor lauter Lauschen und Staunen sei still,
du mein tieftiefes Leben;
dass du weisst, was der Wind dir will,
eh noch die Birken beben.
Und wenn dir einmal das Schweigen sprach,
lass deine Sinne besiegen.
Jedem Hauche gieb dich, gieb nach,
er wird dich lieben und wiegen.
Und dann meine Seele sei weit, sei weit,
dass dir das Leben gelinge,
breite dich wie ein Feierkleid
über die sinnenden Dinge.
Momente im Kreis der Zeit
Kurz vor halb, eine kleine Endzeit aus Licht. Wir haben uns um etliche Stunden verschoben. Keiner kann das alles wirklich ernst meinen; das stellen wir immer wieder fest. Am Lagerfeuer, zwischen unseren schönsten Mollakkorden, die wir niemals verlassen. Ein Spiel ist das schon lange nicht mehr. Ein Seebad, ein Waldstrand. Ein Lied dazwischen, ein Tee zwischen dem einen Bild und dir. So gut wie die Momente, in denen das alles wahr war. Das steht fest, sagst du. Augenblicke jahrhundertealter Momente in unseren Farben. Mit ein bisschen Fantasie. Bezüge aus Stoff, deren Geschichten wir gerne hören würden, doch niemand spricht. Klartext im Museum. Wir drehen uns nicht oft um, nur im Kreis. Keine Minute zum Zurückschauen, alles dahinten wirkt wie eingefroren.Lass uns den Strom abstellen, zurück schwimmen und Steine sammeln. Ein Flussbett.
Der Himmel ist ganz verbogen, wir zogen an ihm. Zu sehr vorbei. Dein Weltraumtext lässt uns tanzen, staunen, träumen.
(Das Gedicht vermittelt in meiner Interpretation die Botschaft, das Geheimnis der Welt zu erkennen. Es erinnert uns daran, dass wahre Erkenntnis oft in den stillen, achtsamen Momenten entsteht, in denen wir uns dem Lauschen und Staunen hingeben.)
PS: Die vierte Karte meines Jahresprojekts entstand nach meiner Auszeit und leider ist mir dabei die Zeit etwas davongelaufen. Beim Versand der Karten ist daher ein Missgeschick passiert: Ich habe sie nicht in Seidenpapier verpackt. Asche über mein Haupt.
No. 3 Liebes-Lied
Liebes-Lied
Wie soll ich meine Seele halten, dass
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiter schwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Geiger hat uns in der Hand?
O süsses Lied.
Die Poesie des Alltags
Befand, dass es ein guter Zeitpunkt sei, die Mikrowelle zu säubern. Schrieb einen Liebesbrief. Bezog mein Bett mit weissen Laken. Dachte nach. Löffelte Kuchen, er war in der Mitte ganz feucht, weich und warm. Schnitt mir in den Finger beim Teilen einer Zitrone. Überlegte, das Blut aufzufangen und als Tinte zu verwenden. Kochte heisse Schokolade und verbrannte mir die Unterlippe. Schürfte mir das Herz auf und es blutete nicht. Las den Brief, der seit Tagen ungeöffnet meinen Flur blockierte wie ein Stein einen Regenwurm. Sammelte Wörter, um sie aufzuschreiben. Doch es gab kein Papier und der Füller hatte keine Tinte mehr. Stellte fest, dass es nichts Schönes gab, das sich auf Liebe reimte. Betrachtete die tanzenden Sterne vor meinen Augen, als mir schwindlig wurde. Trank Wasser so schnell, als wollte ich es einatmen. Verschluckte mich und schnappte nach Luft. Ging zum Fenster und sah Pfützenwasser unter den Reifen des einzigen Autos dieser Stunde hochspritzen. Schaltete das Licht im Atelier ein. Versammelte die Fliegen dort und knallte die Türe hinter ihnen zu. Zündete eine Kerze an. Von ihrem Rauch stiegen mir Tränen in die Augen, als ich sie auspustete. Erspürte die Rauheit des Bodens unter meinen nackten Füssen. Trank Wein und spielte mit dem Glas zwischen meinen Fingern. Bemerkte, dass ich diese Bewegung sonst nur machte, wenn ich Wein nicht alleine trank. Sprach mit mir, und dabei wusste ich doch eh schon, was ich zu sagen hatte. Hörte mir nicht zu. Überlegte, ob “Triebe” ein schönes Reimwort wäre. Duschte. Legte mich mit nassem Haar auf das Bett und sah den Wassertropfen beim Fallen zu. Vergrub meine Nase in den Kissen und atmete weiche Haut. 05:38.
Gute Nacht.
(Das Bild, das nach dieser schlaflosen Nacht in einem kleinen Raum mit vielen schwarzen Decken aufgenommen wurde, soll die Stimmung dieser Erlebnisse einfangen. Die schwarzen Decken symbolisieren die Dunkelheit und Intimität der Nacht, während der enge Raum die Begrenztheit der Gedankenwelt widerspiegelt. Inspiriert von Rilkes “Liebeslied”, das die tiefen Verbindungen und die Unruhe der Seele thematisiert, könnte bzw. sollte das Bild eine melancholische, aber auch beruhigende Atmosphäre vermitteln, die die Essenz des Gedichts und dieser Nacht einfängt.)
No. 2 Guter Tag
Guter Tag
Da prüft man doch: was bringt er?
Und wie langsam liest man seine Schrift.
Rascher, reiner, kühner, unbedingter:
oh wie uns die Freude übertrifft.
Ist uns als Künftigste zuvor,
wendet sich und blickt und macht uns schneller,
und wir folgen wie die Vogelsteller,
und das Herz klingt oben bis ins Ohr.
Glück: was rollt das schwer auf seinem Rade,
müde, immer wieder unbereit;
aber Freude steht und blüht gerade,
und wir treten an die Jahreszeit.
Ein Tag voller Glück
An Tagen, die nach schlaflosen Nächten beginnen, ist es nie das Erwartete, das eintritt. An solchen Tagen, an denen nichts gut zu sein scheint, kommt nur das Unerwartete vorbei. Es klopft nicht an, wartet nicht ab, sondern tritt unbemerkt ein. Und es tut leise, was es kann.
Es gräbt Spuren in die Haut, streut Lachen in die Augen und Glück auf jeden Zentimeter der vergehenden Zeit. So wird der Tag zu einem einzigen Fest: mit Kaffee und schaumiger Milch, Himbeeren im Garten, Sonne auf der Haut und dem Ende eines guten Buchs. Ein altes, klappriges Fahrrad, Shorts und Sandalen, Fahrtwind um die Beine, Saft und Honigmelone, Musik, die im Magen kribbelt, Füsse, die tanzen, ein Mond, der hinter Wolken leise wacht – all das füllt diesen Tag aus. Und am Ende steht ein Moment, in dem das Glück durch unsere Adern fliesst, ein Lächeln in unseren Gesten tanzt und Freude in unseren Gesichtern steht wie ein Ausrufezeichen. An diesem Tag könnten wir vor Glück platzen, denn wir haben einen Hafen, Wein, Hoffnung, diesen Abend, diese Nacht, dieses Leben – und vor allem haben wir uns. Das ist das grösste Glück von allen.
(Das Foto wurde an einem sonnigen Tag im Garten aufgenommen. Es war ein guter Tag, der die Schönheit des Augenblicks einfing. Nach einer Phase der Traurigkeit kehrte die Freude zurück.)
No. 1 Der Panther
Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.
Sehnsucht nach Freiheit
Ich klammere mich an die Fetzen meiner alten Haut, kneife die Augen zu und wünsche mir – Freiheit.
Ich sehne mich nach Freiheit. Es ist einfach, sich nach etwas zu sehnen, das man idealisieren kann, verherrlichen bis zur Unkenntlichkeit, weil man die wahre Bedeutung nicht kennt. Das Wort schmeckt verlockend süss, verlockend wild, und es ruft. Es ruft nach dir, nach dem Etwas in deiner Brust, das sich sehnt und verlangt, verlangt und sehnt nach mehr, und dieses Etwas antwortet.
Freundliche, fremde Gesichter an den anderen Tischen, an meinem Tisch nur solche, die man schon zu oft gesehen und gesprochen hat. Die Geschichten, die erzählt werden, wurden schon tausendmal erzählt; ich fühle mich, als würde man mir immer wieder dieselbe wässrige Suppe vorsetzen, die jedes Mal mehr aus Wasser, aus Nichts, aus fader Geschmacklosigkeit besteht.
Ich kann nicht: Lachen über einen Witz, den ich bereits kenne. Mich fabelhaft über eine Geschichte amüsieren, die ich schon gehört habe.
Anscheinend sollte man das können; ich blicke in die altbekannten Gesichter, sehe sie lachen und frage mich, wer hier eigentlich den Verstand verliert. Sie erzählen immer wieder dieselben Geschichten, wie alte Wiederkäuer, kauen sie hoch, bis sie die Farbe verlieren, bis sie zu ein und demselben Brei geworden sind – die gleichen Worte, immer, die gleichen Gesten, die gleichen Lacher. Ich höre nicht hin.
(Das Bild ist meine Interpretation von Frida Kahlo. Es wurde mit Graphit auf Papier (31x31 cm) erstellt. Ich schätze ihre Werke sehr, und ihre nachdenklichen Zitate spiegeln den unbeugsamen Geist dieser legendären Künstlerin wider.
„Nichts ist mehr wert als Lachen. Es ist die Kraft zu lachen und sich seiner selbst zu ergeben, Licht zu sein.“
Das Gedicht „Der Panther“ von Rilke, das die Kraft und den Willen eines gefangenen Panthers beschreibt, passt zu Frida Kahlos Stärke und Durchhaltevermögen.)
Das neue Jahresprojekt
Wortmalereien – Unser neues Jahresprojekt
Tauchen Sie ein in die Welt der Poesie und Kunst mit unserem neuen Jahresprojekt “Wortmalereien”. Wir verbinden die zeitlosen Gedichte von Rilke harmonisch mit Bildern und Texten. Alle zwei Wochen erhalten Sie per Post eine Karte mit einem Gedicht und einem dazu passenden Bild (Zeichnung, Gemälde oder Fotografie).
Diese Karten eignen sich auch hervorragend als Dankes-, Geburtstags- oder Grusskarten und können später separat bestellt werden (Format: 105 x 148 mm, Papiergewicht: 340 g/m², kostenlose Umschläge inklusive). Weitere Informationen folgen.
Hinterlassen Sie uns einen kurzen Kommentar, wenn Sie Interesse haben, und wir senden Ihnen gerne weitere Details zu. Eine Jahresmitgliedschaft kostet 59 Franken.