No. 3 Liebes-Lied
Liebes-Lied
Wie soll ich meine Seele halten, dass
sie nicht an deine rührt? Wie soll ich sie
hinheben über dich zu andern Dingen?
Ach gerne möcht ich sie bei irgendwas
Verlorenem im Dunkel unterbringen
an einer fremden stillen Stelle, die
nicht weiter schwingt, wenn deine Tiefen schwingen.
Doch alles, was uns anrührt, dich und mich,
nimmt uns zusammen wie ein Bogenstrich,
der aus zwei Saiten eine Stimme zieht.
Auf welches Instrument sind wir gespannt?
Und welcher Geiger hat uns in der Hand?
O süsses Lied.
Die Poesie des Alltags
Befand, dass es ein guter Zeitpunkt sei, die Mikrowelle zu säubern. Schrieb einen Liebesbrief. Bezog mein Bett mit weissen Laken. Dachte nach. Löffelte Kuchen, er war in der Mitte ganz feucht, weich und warm. Schnitt mir in den Finger beim Teilen einer Zitrone. Überlegte, das Blut aufzufangen und als Tinte zu verwenden. Kochte heisse Schokolade und verbrannte mir die Unterlippe. Schürfte mir das Herz auf und es blutete nicht. Las den Brief, der seit Tagen ungeöffnet meinen Flur blockierte wie ein Stein einen Regenwurm. Sammelte Wörter, um sie aufzuschreiben. Doch es gab kein Papier und der Füller hatte keine Tinte mehr. Stellte fest, dass es nichts Schönes gab, das sich auf Liebe reimte. Betrachtete die tanzenden Sterne vor meinen Augen, als mir schwindlig wurde. Trank Wasser so schnell, als wollte ich es einatmen. Verschluckte mich und schnappte nach Luft. Ging zum Fenster und sah Pfützenwasser unter den Reifen des einzigen Autos dieser Stunde hochspritzen. Schaltete das Licht im Atelier ein. Versammelte die Fliegen dort und knallte die Türe hinter ihnen zu. Zündete eine Kerze an. Von ihrem Rauch stiegen mir Tränen in die Augen, als ich sie auspustete. Erspürte die Rauheit des Bodens unter meinen nackten Füssen. Trank Wein und spielte mit dem Glas zwischen meinen Fingern. Bemerkte, dass ich diese Bewegung sonst nur machte, wenn ich Wein nicht alleine trank. Sprach mit mir, und dabei wusste ich doch eh schon, was ich zu sagen hatte. Hörte mir nicht zu. Überlegte, ob “Triebe” ein schönes Reimwort wäre. Duschte. Legte mich mit nassem Haar auf das Bett und sah den Wassertropfen beim Fallen zu. Vergrub meine Nase in den Kissen und atmete weiche Haut. 05:38.
Gute Nacht.
(Das Bild, das nach dieser schlaflosen Nacht in einem kleinen Raum mit vielen schwarzen Decken aufgenommen wurde, soll die Stimmung dieser Erlebnisse einfangen. Die schwarzen Decken symbolisieren die Dunkelheit und Intimität der Nacht, während der enge Raum die Begrenztheit der Gedankenwelt widerspiegelt. Inspiriert von Rilkes “Liebeslied”, das die tiefen Verbindungen und die Unruhe der Seele thematisiert, könnte bzw. sollte das Bild eine melancholische, aber auch beruhigende Atmosphäre vermitteln, die die Essenz des Gedichts und dieser Nacht einfängt.)
No. 2 Guter Tag
Guter Tag
Da prüft man doch: was bringt er?
Und wie langsam liest man seine Schrift.
Rascher, reiner, kühner, unbedingter:
oh wie uns die Freude übertrifft.
Ist uns als Künftigste zuvor,
wendet sich und blickt und macht uns schneller,
und wir folgen wie die Vogelsteller,
und das Herz klingt oben bis ins Ohr.
Glück: was rollt das schwer auf seinem Rade,
müde, immer wieder unbereit;
aber Freude steht und blüht gerade,
und wir treten an die Jahreszeit.
Ein Tag voller Glück
An Tagen, die nach schlaflosen Nächten beginnen, ist es nie das Erwartete, das eintritt. An solchen Tagen, an denen nichts gut zu sein scheint, kommt nur das Unerwartete vorbei. Es klopft nicht an, wartet nicht ab, sondern tritt unbemerkt ein. Und es tut leise, was es kann.
Es gräbt Spuren in die Haut, streut Lachen in die Augen und Glück auf jeden Zentimeter der vergehenden Zeit. So wird der Tag zu einem einzigen Fest: mit Kaffee und schaumiger Milch, Himbeeren im Garten, Sonne auf der Haut und dem Ende eines guten Buchs. Ein altes, klappriges Fahrrad, Shorts und Sandalen, Fahrtwind um die Beine, Saft und Honigmelone, Musik, die im Magen kribbelt, Füsse, die tanzen, ein Mond, der hinter Wolken leise wacht – all das füllt diesen Tag aus. Und am Ende steht ein Moment, in dem das Glück durch unsere Adern fliesst, ein Lächeln in unseren Gesten tanzt und Freude in unseren Gesichtern steht wie ein Ausrufezeichen. An diesem Tag könnten wir vor Glück platzen, denn wir haben einen Hafen, Wein, Hoffnung, diesen Abend, diese Nacht, dieses Leben – und vor allem haben wir uns. Das ist das grösste Glück von allen.
(Das Foto wurde an einem sonnigen Tag im Garten aufgenommen. Es war ein guter Tag, der die Schönheit des Augenblicks einfing. Nach einer Phase der Traurigkeit kehrte die Freude zurück.)
No. 1 Der Panther
Der Panther
Im Jardin des Plantes, Paris
Sein Blick ist vom Vorübergehn der Stäbe
so müd geworden, dass er nichts mehr hält.
Ihm ist, als ob es tausend Stäbe gäbe
und hinter tausend Stäben keine Welt.
Der weiche Gang geschmeidig starker Schritte,
der sich im allerkleinsten Kreise dreht,
ist wie ein Tanz von Kraft um eine Mitte,
in der betäubt ein großer Wille steht.
Nur manchmal schiebt der Vorhang der Pupille
sich lautlos auf -. Dann geht ein Bild hinein,
geht durch der Glieder angespannte Stille -
und hört im Herzen auf zu sein.
Sehnsucht nach Freiheit
Ich klammere mich an die Fetzen meiner alten Haut, kneife die Augen zu und wünsche mir – Freiheit.
Ich sehne mich nach Freiheit. Es ist einfach, sich nach etwas zu sehnen, das man idealisieren kann, verherrlichen bis zur Unkenntlichkeit, weil man die wahre Bedeutung nicht kennt. Das Wort schmeckt verlockend süss, verlockend wild, und es ruft. Es ruft nach dir, nach dem Etwas in deiner Brust, das sich sehnt und verlangt, verlangt und sehnt nach mehr, und dieses Etwas antwortet.
Freundliche, fremde Gesichter an den anderen Tischen, an meinem Tisch nur solche, die man schon zu oft gesehen und gesprochen hat. Die Geschichten, die erzählt werden, wurden schon tausendmal erzählt; ich fühle mich, als würde man mir immer wieder dieselbe wässrige Suppe vorsetzen, die jedes Mal mehr aus Wasser, aus Nichts, aus fader Geschmacklosigkeit besteht.
Ich kann nicht: Lachen über einen Witz, den ich bereits kenne. Mich fabelhaft über eine Geschichte amüsieren, die ich schon gehört habe.
Anscheinend sollte man das können; ich blicke in die altbekannten Gesichter, sehe sie lachen und frage mich, wer hier eigentlich den Verstand verliert. Sie erzählen immer wieder dieselben Geschichten, wie alte Wiederkäuer, kauen sie hoch, bis sie die Farbe verlieren, bis sie zu ein und demselben Brei geworden sind – die gleichen Worte, immer, die gleichen Gesten, die gleichen Lacher. Ich höre nicht hin.
(Das Bild ist meine Interpretation von Frida Kahlo. Es wurde mit Graphit auf Papier (31x31 cm) erstellt. Ich schätze ihre Werke sehr, und ihre nachdenklichen Zitate spiegeln den unbeugsamen Geist dieser legendären Künstlerin wider.
„Nichts ist mehr wert als Lachen. Es ist die Kraft zu lachen und sich seiner selbst zu ergeben, Licht zu sein.“
Das Gedicht „Der Panther“ von Rilke, das die Kraft und den Willen eines gefangenen Panthers beschreibt, passt zu Frida Kahlos Stärke und Durchhaltevermögen.)
Das neue Jahresprojekt
Wortmalereien – Unser neues Jahresprojekt
Tauchen Sie ein in die Welt der Poesie und Kunst mit unserem neuen Jahresprojekt “Wortmalereien”. Wir verbinden die zeitlosen Gedichte von Rilke harmonisch mit Bildern und Texten. Alle zwei Wochen erhalten Sie per Post eine Karte mit einem Gedicht und einem dazu passenden Bild (Zeichnung, Gemälde oder Fotografie).
Diese Karten eignen sich auch hervorragend als Dankes-, Geburtstags- oder Grusskarten und können später separat bestellt werden (Format: 105 x 148 mm, Papiergewicht: 340 g/m², kostenlose Umschläge inklusive). Weitere Informationen folgen.
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